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Klagelied auf einen Dichter

Klagelied auf einen Dichter

Titel: Klagelied auf einen Dichter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Innes
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der in der Stille von unten heraufklang. Es war
Tammas’ Lied, Der Rabe holt ’ das
Kätzchen-oh :
    Der Rabe holt’ das Kätzchen-oh,
    Der Rabe holt’ das Kätzchen-oh,
    Die junge Katz,
    Fing nie ’nen Spatz,
    Da hinter Meggies Häuschen-oh …
    So schön und zart drangen die dummen alten Verse zu ihr herauf,
daß Isa vor Glück beinahe geweint hätte. Als sie hinuntersah, sah sie Tammas,
wie er zu seiner Scheune hinüberschlenderte und dabei selig den Mond ansang;
vielleicht stand der Mond nun nicht mehr so hoch wie zuvor, und sein Wahn war
von ihm abgefallen. Als er zum Himmel hinaufblickte, sah Isa sein Gesicht: es
war ruhig und sanft, und Tammas ging zu Bett.
    Doch dann vernahm Isa hinter sich von neuem das Atmen.
    Sie wußte sofort, daß es der Herr war; als sie in die Galerie kam,
mußte sie an ihm vorbeigelaufen sein, und nun näherte er sich von hinten. Als
ihr aufging, daß sie nun allein mit Guthrie in diesem unheimlichen, so lange
verlassenen Raum war, da wurde ihr mehr denn je zum Sterben bang. Denn daß
Tammas sie überwältigte und daß sie womöglich ein Kind von ihm bekäme, das war
eine Gefahr, die sie begreifen konnte – von so etwas hatte sie schon manche
Geschichte gehört, die nicht für ihre Ohren bestimmt war –, doch die dunkle
Macht, die Guthrie über sie haben mochte, ging über das Vorstellung des
Mädchens. Und die schlimmsten Ängste sind immer jene, denen man keine Gestalt
geben kann, und der Schrecken, den man instinktiv spürt, ist etwas ganz anderes
als der Schrecken der Phantasie.
    So hielt Isa denn den Atem an, so gut sie konnte, und drückte sich
ganz in ihr schmales Versteck; wenn Guthrie vorüber war, würde sie zur Tür und
von dort in ihr Zimmer laufen, wo sie Tür und Fenster versperren konnte, falls
den Schwachkopf noch einmal seine Gelüste packten. Und nun hatte Guthrie sie
fast erreicht, sein ungleichmäßiger Atem wurde immer lauter, und sie war
sicher, daß er sie mit seinen angsteinflößenden Augen jeden Moment erspähen
mußte. Doch sie war gut versteckt zwischen zwei Zauberdingen, bei denen sie
keine Ahnung hatte, was es sein mochte – gewaltige Erd- und Himmelsgloben waren
es, wie sich herausstellen sollte. Die Galerie war einmal Bibliothek gewesen
und hatte die typische Ausstattung einer vornehmen Bibliothek, nur daß Guthrie,
großer Gelehrter, der er war, die meisten Bücher in den Turm hatte schaffen
lassen, bevor er die Galerie vernagelte. Nur große, halb vermoderte Folianten
lagen noch in den Regalen und wuchtige Quartbände in ihren schwer vergoldeten
Einbänden vom Kontinent, protestantische Theologie, meist aus Genf
herübergeholt, der Metropole orthodoxer Frömmigkeit in den alten Zeiten. Sie
waren in jämmerlichem Zustand; der Geruch des modrigen Leders lag schwer über
dem ganzen Raum, denn für solche Schriften des Glaubens hatte Guthrie – Gott
sei seiner Seele gnädig – keinen Gedanken übrig gehabt.
    Von all dem wußte Isa nichts. Für sie zählte nur, daß der Herr nun
gleich vorüber sein mußte und sie dann vielleicht unbemerkt zur Tür schlüpfen
konnte. Doch schon ein kurzer Blick zeigte ihr, daß sie noch immer gefangen
war; Guthrie stand nach wie vor keine zwei Schritt entfernt, in einen alten,
zerlumpten Morgenmantel gehüllt, in der Hand die Nachttischkerze, deren
tanzende Flamme einen wärmeren Lichtkreis auf das kühle Mondlicht warf. Es war
kalt in der Galerie; Isa zitterte – vielleicht von der Kälte, so wie sie in
ihrem Nachthemd dort kauerte, vielleicht auch vom Anblick des Gutsherrn.
Guthrie, erzählte sie, hätte ebensogut jener Vorfahr sein können, der in Stein
gehauen auf dem großen Grab in der Kirche zu sehen war. Ganz bleich sei er
gewesen, wohl vertieft in geheimnisvolle Gedanken; und auf seiner hohen
zerfurchten Stirn habe ihm, selbst in tiefer Novembernacht, der Schweiß in
glitzernden Perlen gestanden. Wie eine Statue stand er da, nur der Atem, der
schnell und schwer ging, sein Auge, das grimmiger funkelte denn je, zeugten von
dem Aufruhr, der in seinem Inneren wütete.
    Vielleicht eine halbe Stunde habe er reglos so gestanden, berichtete
Isa, doch wenn man bedenkt, wie angespannt die Nerven des Mädchens waren, mögen
es vielleicht auch nur drei oder vier Minuten gewesen sein. Und dann kam er
direkt auf sie zu.
    Isa stieß einen kleinen Schrei aus, erzählte sie, und Guthrie
streckte die Hand nach ihr aus, allem Anschein nach, um sie aus ihrem Versteck
zu zerren. Sie schloß die Augen und wollte in Gedanken

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