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Klagelied auf einen Dichter

Klagelied auf einen Dichter

Titel: Klagelied auf einen Dichter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Innes
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den Ben Cailie bestieg,
und es würde lange dauern, bis jemand auf die Idee käme, so weit oben zu
suchen. Aber sie fürchtete sich nicht; sie war schon einmal aufgestiegen, bis
an den Saum der letzten Felsnadel, und selbst für jemanden, der halb so sicher
auf den Füßen gewesen wäre wie sie, fand Christine, wäre es kaum eine Gefahr
gewesen. Das ging ihr durch den Kopf, als sie sich entlang einer felsigen
Klippe vorarbeitete, wo es vielleicht sieben oder acht Fuß hinunter zur sanften
Heide ging, und gerade bei diesen Gedanken erblickte sie den Mann.
    Er stand ein Stück unterhalb von ihr und weiter vorn auf einem
großen Felsvorsprung, ein junger Mann in blauem Hemd und alten grauen Hosen, ob
vornehmer oder einfacher Herkunft, ließ sich nicht sagen, doch er war eine
prachtvolle Erscheinung, wie er dort stand, reglos in seine Betrachtung
vertieft. So still stand er, daß man ihn für eine Figur in jenem Granit halten
mochte, den er studierte, bis er mit der Hand über die verwitterte Oberfläche
fuhr – eine sinnliche Bewegung, spürte Christine instinktiv, und es rührte sie
seltsam. Genau so mußten die alten Pikten den Stein befühlt haben, aus dem sie
ihre Kunstwerke schufen, die Männer jenes Volkes, das einst in diesen Bergen zu
Hause war.
    Einsam wie sie großgeworden war, hatte Christine kaum je einen
jungen Mann zu Gesicht bekommen, und als ich sie vorhin eine Miranda nannte, da
hatte ich wohl den jungen Neil Lindsay als Ferdinand vor Augen. Eine ganze
Weile lang betrachtete Christine ihn, dann nahm sie ihren Weg wieder auf und
wollte unbemerkt vorüberschlüpfen. Doch die Natur, die oft die seltsamsten Wege
geht, um zum Ziel zu gelangen, ließ den sicheren Fuß, dessen das Mädchen sich
eben noch gerühmt hatte, straucheln, und sie stürzte in den Abgrund, jene
gefährlichen sieben oder acht Fuß hinunter in die Heide, gerade so als wolle
sie dem Fremden auf den Kopf springen.
    Schon im nächsten Augenblick war Neil Lindsay bei ihr; er mußte
gehört haben, wie sie fiel, und hatte einen Sprung gemacht wie ein Panther.
Christine war ganz benommen, die Erde drehte sich um sie und die Heide unter
ihr wogte, erst einmal, dann ein zweites Mal, das zweite Mal, als der junge
Mann sie aufhob. Sie schlug die Augen auf, und er blickte wie verwundert hinein
und fragte: »Hast du dir etwas getan, Mädchen?«, so mitleidig und besorgt, als
wäre sie seine eigene Schwester. Ihr fehle nichts, antwortete sie, und er ließ
sie ganz sanft ihre Glieder bewegen, eins nach dem anderen, um sich zu
vergewissern, und dann sagte er ganz ruhig: »Tun Sie das nicht noch einmal;
dazu ist der Ben Cailie zu schade an so einem schönen Morgen.« Christine
lachte, doch er hatte anscheinend schon vergessen, daß er einen Scherz gemacht
hatte; er sah ihr wieder in die Augen, und es war der Blick eines Verliebten.
    So lernten sie sich also kennen. Neil führte sie hinauf zum Gipfel
des Ben Cailie, und sie wusch sich am Johannistag das Gesicht mit Schnee, und
erfrischt vom Schnee nach dem langen Marsch war sie mutig genug zu fragen, was
er denn dort oben auf dem Berg gesucht habe. Daraufhin warf er den Kopf in den
Nacken und errötete schwer; wie sich herausstellte, hatte er ein Büchlein
dabei, über die Geologie der Grampian-Berge, und hatte schon vieles daraus
gelernt, auch wenn er es immer nur allein und insgeheim studieren konnte. Und
Christine, die zwar eine vornehme Erziehung genossen hatte, doch so einsam und
unnatürlich, daß es ihr vorkam, als habe auch sie sich all ihr Wissen mühsam
erkämpfen müssen, hörte zu; fast den ganzen Tag lang hörte sie zu, was er zu
erzählen hatte, und fand es gar nicht merkwürdig, daß dieser seltsame
Bauernjunge, dem doch das Wortkarge, das sonst ihre Art war, ebenso im Gesicht
geschrieben stand, redete und redete, so begierig und doch so aufmerksam, als
habe er sich mit derselben sinnlichen, forschenden Art, mit der er den harten
Granit berührt hatte, nun den Konturen ihres Verstandes zugewandt. Erst als sie
auf dem Rückweg den Gipfel wieder weit hinter sich gelassen hatten und Mervie
wieder in Sicht kam, wurde er verlegener und dann perplex, als sei ihm etwas
eingefallen, woran er schon viel früher hätte denken sollen. Er sei Neil
Lindsay, stellte er sich vor, und wer sei sie? Und als sie ihm ihren Namen
sagte und er begriff, daß sie das Mädchen war, das bei Guthrie auf Erchany
lebte und von dem erzählt wurde, sie sei seine Tochter, da sah er sie mit einem
Blick an, der sie

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