Klagelied auf einen Dichter
gestanden hatte, die er als seine Vorfahren
ansah. Was er an Bildung besaß, das hatte er sich, erzählten die Leute, von
Vater und Mutter und Brüdern ertrotzt, denn für sie war das englische
Bücherwissen nichts als Dreck, Kleinpächter, die sie waren und die sie wie
alle, die noch da waren, verbissen und aussichtslos gegen die Zeiten
ankämpften. Vor hundert Jahren oder auch noch vor fünfzig hätte er den
richtigen Schulmeister finden können, der ihm etwas beigebracht hätte, und dann
hätte er seinen Sack Mehl zum College in Aberdeen tragen können und dafür seine
Erziehung bekommen. Doch das, was unser Zeitungshändler den pädagogischen
Fortschritt nennt, hat all das nun schwieriger gemacht für Jungen wie ihn, denn
an jeder Biegung des Wegs zum Wissen muß er heute ein Papier vorlegen, das ihm
diese oder jene Nichtigkeit bescheinigt. Neil Lindsays Bildung war Stückwerk,
vieles willkürlich oder reine Phantasie, das Wissen eines eifrigen und höchst
ungeduldigen Geistes, der nie vergessen konnte, welche Möglichkeiten ihm
versagt blieben – denn jemand wie er hätte es bei der einstigen großzügigen und
freien Ausbildung des Landadels weit gebracht, war aber viel zu eigenwillig, um
sich in den staatlichen Schulen Sprosse um Sprosse auf der Leiter
emporzuhangeln. Er war aus dem Stoff, aus dem Rebellen gemacht werden, und
tatsächlich hatte Neil sich, wie man hörte, auch schon mit einem Grüppchen
eingelassen, Nationalisten, die Schottland wieder frei und unabhängig machen
wollten. Will Saunders meinte dazu, er könne nicht verstehen, warum jemand für
ein Schottland kämpfe, das ganz den Iren gehören würde – was heißen sollte, daß
die Nationalisten uns alle dem üblen Volk ausliefern würden, das sich am Clyde
breitgemacht hatte –, daß er aber gewiß für eine gerechtere Neuverteilung der
Kolonien sei und daß es wirklich an der Zeit sei, daß England an die Schotten
zurückfalle. Doch all das hat mit meiner Geschichte nichts zu tun. Als nächstes
soll Christines Bericht darüber folgen, wie sie Neil kennenlernte.
Am Johannistag hatte sie sich ein Stück Brot in die Tasche gesteckt,
einsam wie sie war, und war an dem strahlenden Morgen über den Bergkamm
gewandert und von dort tief ins Tal des Mervie hinab. Die Schäfchenwolken
segelten über ihr dahin; zur Linken lag, ihrem Blick verborgen, der See, wo die
Schnepfen eben erst von ihrem Morgengesang verstummt waren und wo ab und zu
unter lautem Flügelklatschen eine Wildgans aufflog, gewiß hinaus auf das ferne
Meer. Der längste Tag, an dessen Ende es gar nicht wirklich Nacht werden würde,
lag vor ihr, und plötzlich kam ihr die Idee, zu einem Ort aufzusteigen, an dem
sie nie zuvor gewesen war: zu dem noch immer schneebedeckten Gipfel des Ben
Cailie. Also ging sie zunächst weiter das Tal hinunter, am Hof der Lindsays
vorüber, von dem sie kaum wußte, wer dort wohnte, und durch eine Schonung
wieder bergan, schritt durch die Überreste der Ahornblätter des vergangenen
Herbstes, die noch auf ihrem weichen Teppich aus Lärchennadeln lagen. Bald
hatte sie auch die Kiefernwälder hinter sich und ein Grüppchen Vogelbeerbäume,
und dann lag vor ihr die kahle Flanke des Ben Cailie; links sah sie den langen
Silberstreif des Sees, und in der Ferne jenseits der Bergwiesen stieg von
Kinkeig, dem sie nun den Rücken zugewandt hatte, der blaue Rauch der Torffeuer
auf. Bisweilen hörte sie ein Rinnsal plätschern, schmale, kühle Ströme aus Schmelzwasser,
die von den Schneefeldern am Gipfel heruntersprangen, dann wieder vernahm sie
das anheimelnde Blöken der Schafe auf den Wiesen weit unten im Tal; und stets
das »Kiwitt« der Kiebitze, das Christine von jeher vorgekommen war wie ein Ruf
aus ihrem eigenen Innersten. Es war ein langer und einsamer Weg über Fels und
Heide und Geröll, und der Blick öffnete sich zur einen Seite auf eine
prachtvolle Reihe von Gipfeln und auf die Felder jenseits Dunwinnie zur
anderen, die sich mit ihrer strahlenden Last aus grünen Halmen in der Ferne bis
zum unsichtbaren Meer erstreckten.
So stieg denn Christine fast den ganzen Vormittag lang die große
Flanke des Ben Cailie hinauf, und ohne daß sie es wußte, kam sie mit jedem
Schritt ihrem Schicksal näher. Sie rechnete nicht damit, daß sie eine
Menschenseele sehen würde, bevor sie in der Abenddämmerung wieder auf der Burg
einträfe, und einen Augenblick lang überlegte sie, was wohl geschähe, wenn ihr
dort oben etwas zustieße, denn niemand wußte, daß sie
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