Klagelied auf einen Dichter
dem Gutsherrn daran gelegen
war, die Bewohner des Bauernhofes so schnell wie möglich loszuwerden, denn wenn
er so sehr an seinem Golde hing, dann mußte er sich, wie Christine sagte, tatsächlich
einen Schmerz zugefügt haben, als er dem Bauern eine ganze Handvoll davon gab. Und
einen Augenblick lang hatte ich ein Bild vor Augen, eine Vision wohl beinahe so
lebhaft wie jene der Mis..tress McLaren, von der ich oben berichtet habe: Guthrie,
wie er beim Licht der einzigen Kerze (was ja schon deutlich genug zeigte, was für
ein Geizhals er war) oben in seinem finsteren Turme sitzt und immer und immer wieder
sein Gold durch die Finger rinnen läßt – gewiß symbolisierte es für ihn etwas, wovon
wir nichts wissen –, und dann ruft er das Mädchen hinzu und zeigt ihr stolz die
Münzen, nennt es Numismatik, damit er eine vernünftige Erklärung für die Lust hat,
die ihn treibt. Und auch wenn ich kaum etwas von Neil Lindsay wußte, war ich doch
froh, daß Christine ihn gefunden hatte; das Glitzern jenes Goldes, wie das glitzernde
Gold, das viele in seinen Augen sahen, ließ mir den ganzen Mann in seiner
finsteren Burg düsterer vorkommen denn je.
»Zeigt das denn nicht, wie es um ihn steht?« fragte Christine zum
zweiten Mal. Und dann fügte sie hinzu: »Aber neuerdings spielt er nicht mehr so
viel mit dem Gold; jetzt hat er statt dessen seine Puzzlespiele.«
Ich sah sie verwundert an – nicht des Inhalts wegen, denn den
verstand ich nicht, sondern wegen des gequälten Tonfalls, mit dem sie das
sagte, und der immer größer werdenden Anspannung, die ich auf ihrem Gesicht
sah. Die Begebenheiten auf Erchany setzten dem Mädchen zu, das war
offensichtlich, und sie wußte nicht, wie sie es mir erklären sollte.
»Puzzlespiele?« fragte ich verblüfft.
»Mein Onkel hat alle möglichen Sachen aus Edinburgh kommen lassen – auch wieder so etwas, wo er plötzlich mit vollen Händen das Geld ausgibt.
Lebensmittel, als ob wir demnächst auf Erchany belagert würden, teure Sachen,
und manche dabei, die ich nicht einmal dem Namen nach kannte! Und eine ganze
Kiste Bücher.«
»Der Gutsherr hat doch schon immer viel gelesen, Christine.«
»Schon, aber er hat nie Bücher ge kauft !
Und es sind Themen, die ihn sonst nie beschäftigt haben – medizinische
Fachbücher. Jetzt sitzt er oben im Turm und brütet ganze Nächte über ihnen.«
Darüber dachte ich einen Moment lang nach, und etwas Gräßliches ging
mir auf. Verlor Guthrie tatsächlich den Verstand – wie Christine glaubte und
der Quacksalber aus der Harley Street ja auch halb prophezeit hatte –, spürte
er es und versuchte er verzweifelt, die Krankheit zu erkunden, damit er sie
noch abwenden konnte? »Christine«, fragte ich vorsichtig, »sind es vielleicht
Bücher über den Verstand?«
Sie wußte sogleich, worauf ich hinauswollte, und schüttelte den Kopf.
»Die, die ich gesehen habe, nicht. Eines von einem gewissen Osler über allgemeine
Medizin, eines von Flinders über Radiologie, Richards über Herzerkrankungen –« Sie
brach ab und runzelte die Stirn, und ich begriff, wie verzweifelt sie sich bemüht
haben mußte, hinter das Geheimnis des Herrenhauses zu kommen, sonst wären ihr die
Buchtitel nicht im Gedächtnis geblieben.
Ich selbst war ratlos, wie diese neueste Laune Guthries zu deuten
sein mochte, und so hielt ich mich an etwas anderes. »Diese Puzzles, Christine,
was tut er damit?«
»Es ist Spielzeug – du kennst diese Dinger aus Holzklötzen, nicht wahr,
Onkel Ewan? Ich glaube, es ist billiger Kram aus einem Versandhauskatalog. Grausige
Schlachtenbilder. Man sitzt da und brütet, warum der Kopf des deutschen Soldaten
nicht paßt, und dann stellt man fest, daß er ihm gerade abgeschossen wird und daß
er oben links in die Ecke gehört. Das fertige Bild heißt dann Marneschlacht oder
so etwas – und mein Onkel will immer, daß ich ihm dabei helfe. Über Panzer und Handgranaten
und die Versenkung der Lusitania weiß ich jetzt alles.
Vielleicht glaubt mein Onkel, das ist das Stück Erziehung, das mir noch fehlt.«
Ein Funken Heiterkeit war in Christines Stimme; trotzdem waren es
die ersten bitteren Worte gewesen, die ich je von ihr vernommen hatte. Es sei
ein dummer Zeitvertreib, antwortete ich, aber doch gewiß harmlos, und sie
brauche sich deswegen keine Sorgen zu machen.
Christine warf mit einer halb ungeduldigen, halb verzweifelten Geste
ihr hübsches Haar zurück. »Es hat die Stelle des Goldes eingenommen. Ver stehst du das denn
Weitere Kostenlose Bücher