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Klagelied auf einen Dichter

Klagelied auf einen Dichter

Titel: Klagelied auf einen Dichter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Innes
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die Ereignisse auf Erchany zurückblicke, so sehe ich die
Figuren darin bald undeutlich und hilflos getrieben wie in dem großen Sturm, in
den unsere Lehrerin geriet, bald scharf umrissen in Gesten so extravagant wie
die Bilder, die uns die kahlen, vom Sternlicht durchfluteten Bäume in den
langen, bitteren Frostnächten boten; und wie der Vorhang im Theater senkt sich
und hebt sich, während die Geschichte ihrem entsetzlichen Ende zueilt, der
Vorhang des unablässig fallenden und wieder schmelzenden Schnees. Wenn die
Zeitungen durch die Schneewehen bis zum wohlinformierten Mann durchkamen – was
nicht immer geschah –, dann kam er zum Arms heruntergepatscht und erzählte uns,
wie sie in der Fleet Street schrieben, Schottland ersticke im Schnee, es sei
ein Rekordwinter, wie er ja von Anfang an gesagt hatte. Das habe er, meinte
Will Saunders dazu, er habe es so oft gesagt wie eine Schallplatte mit Sprung,
und er hoffe nur, daß dem Zeitungshändler bald die Grammophonnadeln ausgingen
oder die Feder bräche.
    Am selben Tag, an dem Christine mich besuchte, öffneten sich die bleigrauen
Wolken über den längst schneebedeckten Hängen, und die feinen weißen Flocken fielen
und fielen, und immer dichter häufte sich auf Täler und Felder die weiße Watte,
so rein und reglos und still wie der Marmorboden im Himmel, bevor der Allmächtige
auf die Idee kam, ihn mit Scharen von Engeln zu bevölkern. Oft habe ich mir in jenen
Tagen, die so weiß und still zur Weihnacht hinüberhuschten wie makellose Gespenster,
meine Gedanken gemacht, wie es wohl weiter oben im Tal aussehen mochte. Ich erwartete
keine Neuigkeiten; niemand konnte dies Hindernis, das sich immer weiter auftürmte,
noch überwinden, ausgenommen vielleicht Tammas, von dem die Leute erzählten, er
entwickle geradezu übernatürliche Kräfte im Schnee, wie eine Gestalt in einem Märchen.
Ich selbst bin als junger Bursche ja manche Meile durch den tiefen Schnee gewatet,
wenn ich einmal die Woche, sommers wie winters, zur Bücherei in Dunwinnie pilgerte
und meine Zeitungen und Bücher las. Doch eine solche Mühe, wie jetzt der Weg zwischen
Kinkeig und Erchany sein mußte, hatte ich wohl nie auf mich genommen, und so war
ich höchst überrascht, als Tammas dann tatsächlich vor meiner Tür stand.
    Erschöpft war er wie Satan, als er sich durch das Chaos gekämpft
hatte – und er war ja nun wirklich wie ein Besucher aus einer anderen Welt. Am
Tag zuvor – am 22. Dezember also – waren noch ein oder zwei Autos aus
Dunwinnie heraufgekommen, und die Besucher erzählten, wie es dort unten, am
unteren Ende des Sees, aussah: die Leute kamen in Hunderten zum
Eisstockschießen, mit Sonderzügen. Doch am 23. blieb alles still, und wir
zweifelten, daß noch jemand zu uns durchkommen würde: Kinkeig war von der Welt
abgeschnitten, und Erchany wiederum von Kinkeig. Niemand kam durch außer
Tammas, der schnaufend und keuchend vor meiner Tür stand und aus seinem großen
sabbernden Mund Atemwolken ausstieß wie ein Drache.
    Doch aus einem Drachen hätte man eher schlau werden können als aus
dem Schwachkopf, erschöpft von seinem schweren Marsch wie er war. Was er sagte,
war nur konfuses Gestammel, und er ließ sich nicht dazu bewegen, ins Haus zu
kommen und sich auszuruhen; er drückte mir einen Brief in die Hand und stapfte
davon, ehe ich noch ein Wort sagen konnte. Ich betrachtete den Brief und sah,
daß er von Christine war – und da ließ ich den Schwachkopf gewähren, ging
wieder nach drinnen, setzte mich ans Feuer und las.
    Lieber Onkel Ewan!
    Ich habe dummes Zeug geredet – kannst Du mir verzeihen? Alles ist
gut – wirklich gut, auch wenn es noch so unglaublich
ist – und nur bis zum Weihnachtstag muß ich noch warten!
    Heute morgen kam mein Onkel zu mir; er schien guter Laune, was selten
genug bei ihm ist; er stand vor dem kleinen Feuer, das Mrs.   Hardcastle auf seine
Anweisung für mich entzündet hatte, und sagte: »Ich habe das größte aller Puzzles
gelöst.« Aber dann merkte er, daß ich mit meinen Gedanken ganz woanders war, und
plötzlich fragte er sanft: »Muß es denn wirklich er sein, Christine?« Ich antwortete
einfach nur: »Ja«, denn wie sehr es Ja heißt und wie ich
einfach nicht dagegen ankann, das habe ich ihm oft genug gesagt. Und er erwiderte:
»Dann sollst du mit ihm gehen.«
    Ich weiß nicht warum, aber ich zitterte am ganzen Leib und brachte
kein Wort hervor; bei alldem, was ich mir in letzter Zeit an Hirngespinsten
eingeredet hatte, dachte

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