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Klagelied auf einen Dichter

Klagelied auf einen Dichter

Titel: Klagelied auf einen Dichter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Innes
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nicht?«
    Ich muß zugeben, eine ganze Weile lang starrte ich sie an wie eine
Eule. Und dann, undeutlich zunächst, verstand ich, was sie meinte. Hatte ich
denn nicht selbst schon zu mir gesagt, daß das Gold bei diesem Mann nur ein
Symbol für etwas war, das viel tiefer in seinem Inneren steckte?
    Doch Christine war mit ihren Gedanken schon wieder anderswo. »Onkel
Ewan«, fragte sie, »warum hat die kleine Isa Murdoch uns verlassen? Wird
darüber im Dorf auch geredet?«
    Es war eine Frage, vor der ich mich schon gefürchtet hatte.
Christine hatte dieser Tage genug Sorgen, auch ohne daß sie sich auch noch um
den Schwachkopf Tammas kümmern mußte; andererseits schien es, wenn sie nichts
davon wußte, nur recht, sie vor der bedrohlichen Art zu warnen, mit der er sich
Isa genähert hatte. Doch dieses Dilemma löste sie sogleich, denn sie fügte noch
hinzu: »War es nur wegen Tammas?«
    »Nicht nur. Auch deswegen, weil sie sich in der Galerie deines
Onkels versteckt hatte und ihm zuhörte, wie er seine Verse murmelte und
unverständliche Dinge vor sich hinsprach. Da bekam sie es mit der Angst zu tun.
Aber hast du schon einmal davon gehört, Christine, daß dein Onkel etwas mit
Leuten namens Walter Kennedy und Robert Henderson zu tun hatte?«
    Nun war sie an der Reihe, mich wie eine Eule anzustarren – doch nur einen
Augenblick lang. Dann lachte sie, und es war ein helles Lachen; ich war sehr erleichtert,
daß sie wieder lachte. »Ach, Onkel Ewan«, rief sie, »hattest du denn schon einmal
mit Geoffrey Chaucer zu tun?« Und plötzlich packte ihr alter Übermut sie wieder;
sie sprang auf, als seien all ihre Sorgen verflogen, und spazierte in meiner kleinen
Werkstatt auf und ab, die Hände hinter dem Rücken verschränkt und den Blick auf
einen Punkt vor sich, ein wenig in der Ferne, geheftet, als sei sie Ranald Guthrie
höchstpersönlich. Und dann rezitierte sie in seinem Singsang:
    Und er verschlang in seiner Gier
    Chaucer, den edlen, der Dichter Zier,
    Lydgate und Gower dahin, oh weh,
    Timor Mortis conturbat me.
    In Dunfermline umarmt’ er schon
    Den Meister Robert Henrisoun,
    Sir John von Ross ereilt’ er jäh,
    Timor Mortis conturbat me.
    Christine machte kehrt und lachte noch einmal. Den nächsten Vers
rezitierte sie mit ihrer eigenen Stimme, lieblich und ernst:
    Und Meister Robert Kennedy,
    Den zwingt der Tod nun in die Knie,
    Oh daß ich ihn nie sterben säh’,
    Timor Mortis conturbat me.
    Ich ließ meine Ahle sinken. »Das waren sie also!« sagte ich.
»Namen aus einem Gedicht.«
    Christine nickte. »Sprach Dunbar in seiner Krankheit. Und sprach
mein Onkel in seiner Galerie – vielleicht genauso krank.« Und sogleich sang sie
noch einen weiteren Vers:
    Er rafft’ dahin die Brüder mein,
    Und ich muß bald der nächste sein,
    Er läßt mich nicht, mein Herz ist weh
    Timor Mortis conturbat me.
    Und dann kam sie und setzte sich neben mich, plötzlich wieder
ganz in ihre finsteren Gedanken vertieft. »Dunbars Klagelied auf
die Dichter ; er schrieb es, als er selbst und ein anderer, den er
verehrte, im Sterben lagen. Mein Onkel rezitiert es immer wieder in letzter
Zeit, und gewiß hat Isa ihn dabei gehört.«
    Ich erinnerte mich, daß Isa gesagt hatte, Guthries Verse seien immer
eine lange Reihe schottischer Verse gewesen und dann jedesmal ein Stück in
einer fremden Sprache. Dunbars Gedicht mußte es gewesen sein, und die Namen
Kennedy und Henderson, die sie in ihrer Ohnmacht hörte, waren nur zwei Namen
aus den Versen, die in ihrer Erinnerung wieder emporkamen. Und ich hätte das
Geheimnis leicht selber lösen können, ohne daß Christine mir mit dem Chaucer
gewinkt hätte, hätte ich nur Verstand genug gehabt, denn Dunbars Gedichte kenne
ich seit vielen Jahren, und ich habe die kundige und prachtvolle Ausgabe von Dr.
Small sogar im Bücherschrank stehen.
    Und damit war meine Unterhaltung mit Christine an jenem Tag zu Ende,
denn bald darauf warf sie einen Blick zur Uhr und nahm ihre Mütze, und so rasch
war sie durch den Schnee um die nächste Ecke verschwunden, daß ich mir ausmalte,
wie wohl am Ende ihres Weges Neil Lindsay auf sie wartete. Es war sprunghaft
gewesen, was sie mir erzählt hatte, und hatte nicht zu viel geführt; ich fühlte
mich von ihr in den düsteren, halb verfallenen Gängen von Castle Erchany zurückgelassen,
ich tastete hilflos im Dunkel und wußte nicht wonach. An jenem Abend saß ich
noch lange auf meiner Schusterbank, als die Sonne längst untergegangen war,
versäumte es, meine

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