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Klagelied auf einen Dichter

Klagelied auf einen Dichter

Titel: Klagelied auf einen Dichter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Innes
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Läden zu schließen, und schlenderte auch nicht wie sonst zum
Arms; die Sache beschäftigte mich, und ich brauchte Ruhe zum Überlegen.
    Es war seltsam, daß der junge Neil Lindsay, der doch mit den Traditionen
seiner Familie brechen und ein neues Leben in einem neuen Land beginnen wollte,
sich überhaupt mit der alten Feindschaft zwischen den Lindsays und den Guthries
abgab. Und seltsamer noch, daß Guthrie, ein Gelehrter und einst sogar Poet, der
sich doch mit dem Wesen der Dinge, mit der Zeit und mit den Veränderungen, die sie
bewirkte, beschäftigen mußte, den so überlebten, so engstirnigen Haß gegen die Lindsays
nicht überwinden konnte. Die heutigen Lindsays, einfache und arme Leute, mochten
in Ranald Guthrie den Inbegriff jener sehen, die alles haben und immer noch mehr
wollen und dabei die einfachen Leute in Schottland zu Bettlern gemacht haben, und
diesem echten Ressentiment brauchten sie nur mit der alten Geschichte ein wenig
Farbe zu geben; doch was konnte das Ranald Guthrie anhaben – einem reichen Mann,
dem sein Besitz alle Sicherheit gab und der doch den gewöhnlichen Neid der Armen
gar nicht bemerken sollte, geschweige denn darauf eingehen? Tat der Gutsherr denn
etwas anderes, als daß er Neil Lindsays Werben aufnahm, wie jeder Mann, der stolz
auf seine Herkunft und seine Ländereien ist, das Werben eines Bauernjungen um ein
Mädchen aufnehmen mußte, das wie eine Tochter unter seinem Dache lebte?
    Und doch war Christine überzeugt, daß ihr Onkel verrückt geworden
war, ob nun ganz oder vorübergehend; und es war seltsam, wie nahe es mir ging,
daß sie sagte, was doch ganz Kinkeig schon seit langem sagte. Kinkeig war immer
bereit, allen Unsinn zu erzählen, wenn er nur aufregend genug war, doch
Christine war ein sanftmütiges Mädchen mit klarem Kopf, das von Mistress
Menzies und von Guthrie gelernt hatte, daß man seine Worte nicht leichtfertig
wählt. Was sie über den Gutsherrn gesagt hatte, das hatte sie ernst und
wörtlich gemeint, und daß sie kaum einen vernünftigen Grund dafür geben konnte,
schien mir nur umso mehr Grund zur Sorge.
    Plötzlich fiel mir ein, daß ich vergessen hatte zu fragen, ob es
Neuigkeiten von den amerikanischen Guthries gab: Konnten sie es nicht doch
sein, die dem Gutsherrn zusetzten – und mochte nicht das kecke Mädchen, das vor
einiger Zeit im Arms aufgetaucht war, eine von ihnen sein? Denn es lag auf der
Hand, daß man, wenn man Guthries Verhalten in den letzten Monaten erklären
wollte, mehr anführen mußte als nur die Geschichte von Christine und ihrem Neil
Lindsay. Die Art, wie er die Gamleys fortgeschickt hatte, die Lieferungen aus
Edinburgh, all das, was Isa Murdoch gesehen und gehört hatte, als sie das
Herrenhaus wieder herrichteten, und in der Nacht auf der Galerie – das reichte
alles in die Zeit zurück, bevor Guthrie wußte, wer Christine den Hof machte oder
daß sie überhaupt einen Verehrer hatte. Und ich dachte wieder über die
medizinischen Fachbücher nach, über denen der Gutsherr brütete, und wie er
seinen Geist mit hölzernen Puzzlespielen beschäftigte. Und ich sah ihn vor mir,
wie er sich mit wütenden Axthieben den Weg in die lange verlassene Galerie
öffnete, wie er dort durch den endlosen Gang wanderte und wie er – das letzte,
was Isa von ihm gesehen hatte – am Ufer des Loch Cailie gestanden und in die
Ferne geblickt hatte. Und immer wieder hatte ich Christines Stimme im Ohr, ihre
harte Stimme – als blicke sie einer tödlichen Gefahr ins Gesicht –, die Stimme,
die verkündete, ihr Onkel sei irrsinnig. Ich versuchte, mir einen Reim auf all
das zu machen, und dann war mir, als hörte ich den Gutsherrn selbst, wie er
verzweifelt den lateinischen Refrain jenes alten schottischen Dichters
hinausbrüllte, des Dichters, der gequält war von der Furcht vor dem Tode, nein,
vom Tode selbst.
    Und da ging ich in meine Kammer und holte das Buch; ich blies den
Staub fort und schlug das Klagelied auf.
    Klagelied auf die
Dichter
    In seiner Krankheit
    Ich, der gesund und froh einst war,
    Lieg’ krank hier nun, dem Grabe nah,
    So siech und schwach und bleich wie Schnee,
    Timor Mortis conturbat me.
    Ich las es von Anfang bis Ende, die hundert Zeilen Klagegesang
auf die toten Dichter Schottlands, las es bis zum letzten Vers:
    Dem Tod entfliehen kannst du nicht,
    Drum rüste nur beizeiten dich,
    Zum Auferstehn nach Todes Weh,
    Timor Mortis conturbat me.

XI.
    Es war ein strenger Winter. Wenn ich nun auf meinen Vorspruch zu
diesem Bericht über

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