Klagelied auf einen Dichter
nicht, Mr. Gylby.« Und dann: »Sehen Sie!«
Ganz am unteren Ende des Turms und auf der rechten Seite war ein
Lichtstreif erschienen. Wir tasteten uns vorsichtig entlang der Grabenkante vor
und entdeckten eine zweite Brücke – diesmal keine Zugbrücke –, und an deren
anderem Ende hatte sich eine kleine Hintertür einen unfreundlichen Zoll weit
geöffnet. Wir gingen hinüber, und der Schnee knirschte unter unseren Schuhen.
Die Hunde bellten, was das Zeug hielt, doch trotzdem war der Türspalt, durch
den das Kerzenlicht schien, nicht breiter geworden. Also klopfte ich. Woraufhin
eine grobe Stimme fragte: »Ist das der Doktor?«
Sie hatten jemand anderen erwartet. »Wir sind zwei Reisende«,
erklärte ich dem Lichtspalt, »wir hatten einen Unfall mit dem Wagen.« Denn es
schien mir nur angemessen, es in dieser Drastik zu formulieren, und ich gab mir
Mühe, es so mitleiderregend wie nur möglich zu sagen. Doch meinen Bemühungen
war kein Erfolg beschieden. Der Lichtstreif verschwand. Der Türspalt schloß
sich.
»Also sowas«, sagte Sybil. Ich werde Dir nicht verraten, was ich
gesagt habe. Doch noch während ich es sagte, spitzte sich die Lage weiter zu – ein großes Kettengerassel begann. »Das Gespenst!« rief Sybil.
Du wirst mir zustimmen, Diana, daß die Tage, in denen man die Frauen
in glücklicher Ahnungslosigkeit hielt, vorbei sind. »Die Hunde«, sagte ich nur.
Damit hatten die Dinge nun eine wirklich besorgniserregende Wendung
genommen, doch nicht lange, und unsere Lage besserte sich wieder. Eine vornehme
Stimme ließ sich vernehmen – man durfte sich vorstellen, daß der ungehobelte
Türhüter einen gehörigen Tadel erfuhr –, und dann öffnete sich die Türe weit,
und dieselbe Stimme lud uns ein: »Kommen Sie herein, bitte.«
Was wir uns nicht zweimal sagen ließen. Wir traten ein, jeder einen
Koffer an sich gedrückt, als beträten wir ein Hotel. Sogleich nahm unser
Gastgeber Sybil den ihren aus der Hand, mit jener dick aufgetragenen
Höflichkeit, die vornehme alte Herren bisweilen an den Tag legen: »Willkommen
auf Erchany. Mein Name ist Guthrie.«
Und Sybil erwiderte in ihrem bezauberndsten Amerikanisch: »Das ist
ja komisch. Ich heiße auch Guthrie.«
Mr. Guthrie von Erchany betrachtete sie mißtrauisch, und seine Augen
funkelten im Kerzenlicht. »Ein Grund mehr«, sagte er, »Sie so gastfreundlich
aufzunehmen, wie es uns möglich ist. Zuerst müssen wir Ihnen Zimmer suchen und
Feuer entzünden.«
Das war freundlich genug und wäre kaum wert, daß ich es in solcher
Ausführlichkeit für Dich festhalte (ach liebste, liebste Diana!). Freundlich
genug – umso seltsamer, daß ich vom ersten Augenblick an das Gefühl hatte, daß
Mr. Guthrie verrückt ist. Ich bin überzeugt davon,
und nicht nur das – ich war es schon, bevor ich auch nur den ersten Blick in
seine irrwitzige Burg geworfen hatte.
Es müssen die Augen sein, die Art, wie er uns bei jener ersten
Begrüßung im flackernden Kerzenlicht betrachtete. Vielleicht ist er auch
einfach nur Mathematiker oder Schachspieler, denn so wie er uns von oben bis
unten musterte, kam es mir vor, als ob er unsere Position in einem geheimen
Diagramm bestimmte oder uns Plätze auf einem unsichtbaren Schachbrett zuwies.
Es mag auch einfach an mir gelegen haben, daß ich mir vorkam wie eine
Schachfigur – nur zu verständlich nach einem solchen Marsch durch den Schnee.
Doch ganz gleich, wie dieser erste Eindruck zustandekam, hat das Gefühl sich
seither bei mir nur immer weiter verstärkt. Die Hunde waren das nächste Indiz.
In der Regel wird einem Hausherrn ja daran liegen, daß er seine
Hunde gut durch den Winter bringt, doch die hiesigen – die beiden, die uns auf
unserer Suche nach Zimmern und Feuer begleiteten – sind halb verhungert: so
etwas im Haus eines Landedelmannes ist einfach unerhört. Ich war zutiefst
dankbar, daß man ihre weniger häuslichen Genossen – die sich noch immer
irgendwo draußen die Seele aus dem Leib kläfften – nicht auf uns losgelassen
hatte, wie es wohl beinahe geschehen wäre. Und bei dem Gedanken sah ich mich
nach dem Türhüter um, der uns so unfreundlich aufgenommen hatte. Auf den ersten
Blick schien der Gutsherr von Erchany ganz allein, doch dann sah ich den
Unhold, der da in seinem Schatten schlurfte. Dies war der eingangs erwähnte
Hardcastle – ein Mann, der aussah, als ob er uns bei der ersten Gelegenheit den
Schädel einschlagen würde, um an unser Kleingeld zu kommen; und doch wurde er
uns in
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