Klagelied auf einen Dichter
piktische oder römische Fundstücke
zeugten von seinem Interesse an der Archäologie. Ich betrat die Schlafkammer. Auch
hier schien nur wenig interessant. Guthries eigentliches Schlafzimmer war im Stockwerk
unter uns gewesen; von einem Feldbett abgesehen, auf dem er vielleicht gelegentlich
ein Nickerchen hielt, war diese Kammer hauptsächlich ein Abstellraum: ein zerbrochener
Stuhl, in einer der Ecken ein Sortiment aus alter Leinwand, Seilen und Stäben, ein
zerbrochener Spiegel an der Wand, ein halb verrotteter Vorhang an den schmalen Fenstern.
Ein Großteil von Erchany befand sich, soweit ich sah, in einem solchen Stadium des
Verfalls; ich hatte mich schon abgewandt, als mir noch ein Buch auffiel, das am
Fußboden lag. Ich hob es auf. »Noch mehr Medizinisches, Miss Guthrie. Experimentelle Radiologie von Richard Flinders.« Ich legte es
wieder an seinen Platz. »Wir sind mit freundlicher Duldung der Polizei hier, und
wir sollten alles so zurücklassen, wie wir es gefunden haben. Und nun ist es
vielleicht Zeit, unsere Diskussion wieder aufzunehmen.«
Drüben in der Studierstube nahm Miss Guthrie ihre – wie ich ja nun
wußte – Lieblingshaltung auf der Kante des Schreibtisches ein. Es war ganz
außerordentlich kalt, und ich machte mir – ein Zugeständnis an das Alter, in
dem das Blut nicht mehr so recht in den Adern fließen will – ein wenig warm,
indem ich begann, im Raume auf- und abzugehen. »Miss Guthrie, Sie haben gewiß
schon Kriminalgeschichten gelesen, in denen die unerhörtesten Erkenntnisse aus
einer, wie der Ausdruck lautet, Rekonstruktion des Verbrechens gewonnen
werden?«
Indirekt, aber umso nachdrücklicher, beantwortete Miss Guthrie meine
Frage: »Es gab kein Verbrechen. Das haben Sie doch selbst gesagt.«
»Ich glaube, da verstehen Sie mich falsch. Aber für den Augenblick
können wir uns auf ›die Ereignisse des Weihnachtsabends‹ einigen. Und ich
möchte Sie bitten, sich hier in diesem Zimmer auszumalen, zu welchen Schlüssen
die Polizei kommen wird, wenn sie jene Ereignisse rekonstruiert.«
»Ich verstehe nicht, worauf Sie hinauswollen.«
»Einfach nur darauf, daß eine solche Rekonstruktion Ihre
Zeugenaussage, so wie sie im Augenblick steht, auf Anhieb erschüttern würde,
und das aus gutem Grund. Die Schilderung, die Sie Mr. Gylby gaben, war
ebensosehr von Ihren eigenen Wünschen gefärbt, wie sie vom klaren Licht der
objektiven Tatsachen erleuchtet war.«
Miss Guthrie stand auf. »Wenn Sie das glauben, Mr. Wedderburn, dann
wüßte ich nicht, warum wir noch länger –«
»Was ich jedoch sehe und was die Polizei vielleicht nicht sehen
wird, das ist, daß Sie sich in diese gefährliche und unerfreuliche Lage ohne
jeden Grund bringen. Als Mensch steht es mir nicht zu, über Ihre Einstellungen
zu urteilen, doch als Ihr Anwalt muß ich sagen, daß sie falsch sind. Und zwar
deswegen: Ein romantisch ausgeschmückter Bericht kann uns nur in Verlegenheit
bringen. Was wir brauchen, sind Fakten.«
Miss Guthrie inspizierte ihre Fingerspitzen. Dann sagte sie: »Können
Sie mir beschreiben, wie so eine Rekonstruktion aussehen wird?«
»Stellen Sie sich diesen Raum hier vor, nur von zwei oder drei Kerzen
erleuchtet. Die Tür zum Wehrgang ist nicht ganz verschlossen. Draußen tobt ein
Sturm, das Licht ist nicht nur schwach, sondern unstet und flackernd dazu. Sie
stehen draußen und spähen durch die Ritze. Wieviel sehen Sie da?«
»Eine ganze Menge – auch wenn das Licht noch so unstet war. Und
keine Rekonstruktion der Welt kann beweisen, daß ich nur etwas Bestimmtes
gesehen habe und nichts anderes.«
»Das ist wahr. Aber beweisen läßt sich, daß Sie nicht um die Ecke
sehen können, genausowenig, wie sonst jemand das kann. Und nun sage ich Ihnen,
daß es, wenn Sie nicht gerade den Kopf zur Tür hineingesteckt hätten, unmöglich
gewesen wäre, die beiden nebeneinanderliegenden Türen –Treppenhaus und
Schlafkammer – in ganzer Breite zu sehen. Wäre eine
von beiden weit geöffnet worden, so hätten Sie die
Bewegung gewiß bemerkt. Doch hätte jemand sie, eine oder beide, nur einen
Spaltbreit geöffnet, gerade so weit, daß ein Mann hindurchschlüpfen konnte,
dann hätten Sie nichts bemerkt. Mit anderen Worten, Miss Guthrie, Ihre Aussage
stellt den Eindruck , den Sie hatten, als Gewißheit dar, und damit kommen Sie nicht durch. Die Tür
zum Treppenhaus öffnete sich weit, und Sie sahen Lindsay nicht wieder. Die Tür
zur Schlafkammer öffnete sich weit, und Sie sahen Guthrie
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