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Klagelied auf einen Dichter

Klagelied auf einen Dichter

Titel: Klagelied auf einen Dichter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Innes
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denke mir«, sagte sie, »der Turm selber ist ja
schon Tresor genug.«
    »Da mögen Sie recht haben. Trotzdem war es doch eine Versuchung für
jemanden, eine Aufforderung geradezu. Was meinen Sie: wäre zum Beispiel
Hardcastle ein so treuer Diener, daß er ihr widerstand?«
    Miss Guthrie runzelte die Stirn. »Das ist schon ein Rätsel.«
    »Ganz und gar nicht.«
    »Mr.   Wedderburn!« Es war wunderbar, mit welcher Verblüffung meine
Mandantin das aufnahm.
    Das Glucksen, mit dem ich es quittierte, hätte man als schönen Beleg
nehmen können, daß Onkel und Neffe Wedderburn doch nicht so verschieden waren,
wie ich manchmal dachte. »Kein Rätsel war beabsichtigt, meine Liebe, und – wichtiger noch – Rätsel gibt es auch keine. Obwohl ich schon sagen muß, daß Sie
Ihr Bestes getan haben, es so rätselhaft wie möglich zu machen.«
    »Mr.   Wedderburn, Sie machen sich über mich lustig. Das gehört sich
nicht für einen Mann Ihres Standes.«
    »Dann wollen wir wieder ernst sein und mit unserer Inspektion
fortfahren. Zum Beispiel würde ich gern die Gedichte von William Dunbar
finden.«
    Ich hatte das Gefühl, daß ich es mit meiner geheimnisvollen Art nun
wirklich übertrieben hatte, und ohne weiteres Geplänkel wandte ich mich den
Bücherregalen zu, auf der Suche nach den schottischen Klassikern. Guthrie hatte
seine Bücher sehr systematisch aufgestellt, und ich fand die Abteilung im
Handumdrehen. Als ich die drei Bände Dunbar vom Brett nahm, rieselte eine große
Staubwolke auf mich herab. »Unser Freund, der poetische Gutsherr«, sagte ich,
»hatte seine Klassiker im Kopf. Er brauchte die Elegie nicht noch einmal zu
lesen, die ihm so lieb war.« Und ich schlug das Klagelied
für die Dichter auf.
    Er schlägt den Ritter in der Schlacht,
    Kein Harnisch trotzet seiner Macht,
    Nicht Schild, nicht Schwert ihm widersteh’.
    Timor Mortis conturbat me.
    Des Siegers Fleisch der Würmer Fraß,
    Auch wenn im sich’ren Turm er saß,
    Der Damen Liebreiz rasch verweh’,
    Timor Mortis conturbat me.
    »Tja, vom sich’ren Turm hat ihn der Tod geholt, das steht fest.«
Ich legte den Band nieder. »Und es gibt ja wohl nur die eine Möglichkeit, das
zu deuten, nicht wahr? Aber wenn Guthrie in letzter Zeit nicht in seinem Dunbar
gelesen hat, dann lassen Sie uns doch einmal sehen, was er statt dessen las.«
Ich ging hinüber zum Schreibtisch, wo ein Stapel neuer Bücher, noch in ihren
Schutzumschlägen, lag. Ewan Bell hatte, als er mir ein paar Stunden zuvor
seinen Bericht gegeben hatte, Guthries plötzliches Interesse an medizinischen
Studien – von dem Miss Mathers ihm ja erzählt hatte – ausgespart, und so war
ich überrascht und verwundert über den Stapel wissenschaftlicher Werke, den ich
dort fand. Letheby Tidys Handbuch der Medizin . Oslers Theorie und Praxis der Medizin . Muirs Lehrbuch der Pathologie – ratlos nahm ich sie eins nach dem
anderen in die Hand. »Wo«, fragte ich, »kommt denn nun bei alldem auch noch die
Medizin ins Spiel?«
    »Auf alle Fälle kommt sie in dem Gedicht ins Spiel.« Miss Guthrie
griff zu dem Dunbar und las:
    Doctores gar der Medizin,
    Die rafft er allesamt dahin,
    Der Medicus, er liegt entseelt.
    Timor Mortis conturbat me.
    »Das ist ja hochinteressant. Und wenn ich mir die Bemerkung
erlauben darf, Miss Guthrie, Sie lesen das Mittelschottische sehr gut. Sie
haben es auf dem College studiert?«
    »Ja, schon.«
    »Darf ich fragen, ob Sie auch einen Doktortitel erworben haben?«
    »Jawohl, Mr.   Wedderburn, das habe ich.«
    »Und sind Sie ganz sicher, daß Sie nicht der ›Doktor‹ sind, nach dem
Hardcastle Ausschau hielt?«
    Miss Guthrie errötete. »Na, das haben Sie ja clever kombiniert!
Natürlich bin ich das nicht. Er wußte nichts von mir. Und ich lege keinen Wert
darauf, mein Leben lang ›Frau Dr.   Guthrie‹ genannt zu werden, nur weil ich im
jugendlichen Leichtsinn einmal ein paar pedantische Zeilen zu Papier gebracht
habe.«
    »Das kann ich verstehen. Nun, lassen Sie uns weitersuchen. Ich
wünschte nur, mein eigener ›jugendlicher Leichtsinn‹ läge so weit hinter mir
wie der Ihre hinter Ihnen.«
    Ich fand nichts mehr im Turmzimmer, was uns noch weitergeholfen hätte.
Von den Büchern abgesehen gab es nicht viel, wovon man auf Leben und Vorlieben Ranald
Guthries schließen konnte: ein Bumerang und ein Flechtkorb der Einheimischen aus
seiner australischen Zeit; ein paar Skizzen von Beardsley erinnerten an seine Bande
zu einer verflossenen Dichtergeneration, ein oder zwei

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