Klammroth: Roman (German Edition)
abermals nach Leonhard von Stille. »Und er will sein Anwesen tatsächlich verkaufen?«
»Nicht verkaufen. Geplant war eine Schenkung, die gerade juristisch abgeklopft wird. Niemand will später mit dem Vorwurf der Vorteilsnahme konfrontiert werden. Aber so wie es aussieht, gibt es ohnehin keine erbberechtigte Verwandtschaft mehr. Der Feiherr ist der Letzte derer von Stille.« Sternberg lächelte. »Derer von Stille«, sagte er noch einmal und ließ die Worte auf der Zunge zergehen. »Das waren noch Zeiten, als man solche Formulierungen benutzt hat.«
»Ich hab als Kind von ihm gehört, aber ich wusste nicht, dass er noch lebt.« Zumal Anais ihn nie bewusst zu Gesicht bekommen hatte. Sein Name war gelegentlich erwähnt worden, und die meisten Kinder hatten schon vom »Stillen Hausim Wald« gehört, als handelte es sich dabei um das örtliche Spukschloss. Allerdings konnte sie sich nicht erinnern, dass irgendwer tatsächlich Schauergeschichten darüber erzählt hatte, es war wohl nicht diese Art von Gemäuer. Als Kinder hatten sie sich gefragt, warum das Stille Haus so genannt wurde – was für ein rätselhaftes Schweigen mochte dort herrschen? –, ehe sie erfahren hatten, dass es sich um den Familiennamen der Besitzer handelte. Anais war sicher, dass ein Großteil der Menschen aus der Umgebung den Namen auch heute noch ohne Bindestrich schreiben würde. Das Stille Haus , nicht das Stille-Haus .
»Er ist neunundneunzig Jahre alt«, sagte Sternberg. »Der Mann hat eine Menge durchgemacht. Im Krieg hat er schwere Verbrennungen davongetragen, und er leidet noch heute unter den Folgen.«
»Was ist passiert?«
»Das war Anfang 1945, kurz vor Kriegsende. Brandwunden waren damals ja beileibe nichts Ungewöhnliches, aber ihn hat es besonders übel erwischt. Er hatte Glück, dass er am Leben geblieben ist. Und noch größeres Glück, dass sich Ihre Stiefmutter seiner angenommen hat.« Er deutete auf einen Besuchersessel vor seinem Schreibtisch. »In all den Jahren hat er sein Haus so gut wie nie verlassen, bis wir ihn schließlich bei uns aufgenommen haben.«
Anais ging zu einem der hohen Fenster. Draußen war es jetzt dunkel, sie sah ihr Spiegelbild im Glas. Schmal, hellhäutig, das Haar so schwarz wie die Nacht.
»Sie wissen es nicht, oder?«, fragte Sternberg hinter ihrem Rücken.
Als sie sich umdrehte, lehnte er mit beiden Händen auf der Schreibtischkante und sah sie an. Irgendetwas schien ihm unangenehm zu sein.
»Was meinen Sie?« Sie wich seinem Blick nicht aus, weil sie Erfahrung darin hatte, angestarrt zu werden.
»Von Stille hat über die Jahre eine Menge Kapital in diese Klinik investiert.«
»Er ist so was wie ein Teilhaber?«
»Die Avila-Stiftung hält dreißig Prozent. Und von Stille ist die Avila-Stiftung. Er hat uns das Geld ohne jede Verpflichtungen gegeben, abgesehen natürlich davon, dass er hier eine unbefristete Unterkunft erhalten hat. Vermutlich hätte er die in seinem Zustand ohnehin bekommen, jedenfalls zu Anfang, aber nach einer Weile besserte sich sein Zustand, und er blieb trotzdem hier. Falls es gelingen sollte, das Institut in den kommenden Jahren ins Stille Haus umzusiedeln, dann hätte Theodora einmal mehr den richtigen Riecher gehabt.«
»Professor Sternberg«, sagte Anais sehr ruhig, »glauben Sie, meine Stiefmutter hat sich umgebracht?«
»Mir würde kein einziger Grund für einen Suizid einfallen. Es gab keine Anzeichen von Depressionen, keine finanziellen Sorgen – und sie hat auch nie eine Krankheit erwähnt, falls das Ihre nächste Frage sein sollte.« Sternberg nahm die Hände vom Schreibtisch und richtete sich auf. Er musste das alles schon mit dem Kommissar durchgesprochen haben. »Theodora hat noch Stunden vor ihrem Tod äußerst enthusiastisch über die Umzugspläne des Instituts gesprochen. Glauben Sie mir, Ihre Stiefmutter war keine Selbstmörderin. Ich sage das aus tiefster Überzeugung. Und ich kann mir auch beim besten Willen nicht vorstellen, was für eine Art von Unfall das gewesen sein sollte.«
»Also denken Sie tatsächlich, sie wurde ermordet?«
»Fällt Ihnen eine Alternative ein?«
Mit einem Seufzen wandte sie sich wieder zum Fensterum. Draußen in der Dunkelheit waren die Gartenanlagen zu wolkigen Umrissen geworden. Am Gebäude entlang verlief ein asphaltierter Fußweg, beschienen von vereinzelten Lampen. Unter jeder stand eine Parkbank.
Auf einer davon, genau unter dem Fenster, saß im Lampenlicht eine schmale Gestalt mit einer
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