Klammroth: Roman (German Edition)
Wollmütze. Blondes Haar fiel über ihre Schultern.
Lily war nicht allein.
Am anderen Ende der Bank saß noch jemand, ebenso aufrecht wie sie, mit dem Rücken zu Anais. Ein hochgewachsener Greis, kahlköpfig, blasshäutig, den Schädel übersät mit Flecken und Schrunden. Er trug einen schwarzen Anzug.
Falls die beiden miteinander sprachen, blickten sie sich dabei nicht an. Sie saßen nur da, ganz still, und starrten in die Nacht hinaus.
11
»Du willst mir allen Ernstes erzählen, du warst allein da draußen?«
Sie fuhren am Fuß des Weinbergs in den Ort hinein. Jede dritte Straßenlaterne war defekt oder ausgeschaltet.
»Es wird nicht weniger wahr, nur weil ich’s zum zehnten Mal sage.« Lily klang müde, als brächte sie kaum noch die Kraft auf, sich über Anais’ Beharrlichkeit zu ärgern. »Ist dir aufgefallen, wie es in der Klinik gerochen hat? Schon klar: arme Menschen, schlimme Verletzungen und all das. Aber deshalb bin ich raus und hab im Freien gewartet. Ich weiß nicht, was so schlimm daran sein soll. Es hat nicht mal mehr geregnet.«
»Gar nichts ist schlimm daran. Aber ich hab dich auf der Bank gesehen, und da saß jemand neben dir.«
Als Lily in einer übertriebenen Geste die Arme in die Höhe warf, knallten sie fast ans Wagendach. »Da. War. Niemand.«
Es war schon nach acht, als sie die Pension erreichten. Der Mann an der Rezeption nickte Anais kurz zu und murmelte etwas darüber, dass der Regen nur kurzfristig aufgehört habe und laut Wetterbericht in der Nacht umso heftiger einsetzen werde. Falls sie noch einen Spaziergang durch die Stadt machen wolle, dann sei jetzt der richtige Zeitpunkt dafür.
Als Lily ihr im Zimmer erklärte, sie wolle noch mit Phil telefonieren, zog Anais sich wieder die Jacke an und machte sich allein auf den Weg in den Ort.
Es waren kaum Menschen unterwegs. Die meisten Läden an der Hauptstraße standen leer, aber sie freute sich, dass ein paar der alten Traditionsgeschäfte überlebt hatten. Da war der Spielzeugladen, in dem sie als Kind zum ersten Mal etwas mit eigenem Geld gekauft hatte – Plastiktiere für einen Bauernhof, den ihr Vater für sie gezimmert hatte –, daneben ein Metzger, der zumindest noch den Namen von damals trug, und gleich gegenüber der Optiker und Juwelier, mit dessen Tochter sie in der Grundschule befreundet gewesen war.
Christina war im Tunnel verbrannt, eines der neunundachtzig Todesopfer, ebenso wie Markus Jahn, der Anais endlos damit aufgezogen hatte, dass sie die Tochter des Schuldirektors war. Und Frank Kindermann, der mal geheult hatte, als sie ihn beim Tischtennis geschlagen hatte; Thomas Mager, dem seine Mutter immer gigantische Gläser mit Kartoffelsalat in die Schultasche packte; Marion Lucht, die kaum redete, aber lange Artikel für die Schülerzeitung schrieb; Lars Rombach, der als Kind im Weinberg am liebsten Söldner spielte, aber später Pfarrer werden wollte; Sonja Kester, die Anais’ Konkurrentin um den Thron der Jahrgangsstufenschönsten und trotzdem die Beste der Schach-AG gewesen war.
An sie alle erinnerte Anais sich wieder, als sie an Geschäften vorbeiging, in denen sie seit siebzehn Jahren nichts mehr gekauft hatte. Da waren noch mehr Namen, noch mehr Gesichter. Anais stellte sich vor, wie sie hinter den Scheiben der Busse saßen, lachend oder in Gespräche vertieft, Christina und Markus und Frank und Marion, dazwischen all die anderen, und dann wurde es stockdunkel, während sie in den Tunnel einfuhren und am anderen Ende nicht mehr ans Tageslicht kamen.
Sie schlenderte an der aufgegebenen Videothek vorüberund erinnerte sich mit verklärter Wehmut an Nachmittage, die sie manchmal dort verbracht hatte, um mit der Besitzerin ihren ersten Kaffee mit viel zu viel Milch und Zucker zu trinken. Die Poster hinter den schmutzigen Scheiben waren vergilbt und gewellt, und als sie sich gegen das Glas lehnte, sah sie im Inneren die leeren Regalreihen und ein paar aufgeklappte Kassettenhüllen auf dem Boden. Aus einem Grund, den sie nicht benennen konnte, erfüllte sie das mit größerer Traurigkeit als all die anderen leeren Geschäfte.
Während ihrer Kindheit hatte es in Klammroth keine Buchhandlung gegeben, nur Zeitschriftenläden mit ein paar Taschenbuchständern, und so erschien es wie ein winziger Lichtblick in der Tristesse des sterbenden Ortes, dass heute ein Buchladen existierte, klein, aber mit liebevoll dekoriertem Schaufenster. Automatisch hielt sie in der Auslage Ausschau nach ihren Romanen, fand
Weitere Kostenlose Bücher