Klammroth: Roman (German Edition)
Pflichten.
Die Kabine stoppte im ersten Stock. Sternberg ließ ihr den Vortritt, als die Tür beiseite glitt. Dem sterilen Klinikflur war die ursprüngliche Nutzung des Gebäudes nicht mehr anzusehen.
»Womit genau kann ich Ihnen helfen?«, fragte er, während sie den Korridor hinuntergingen. Die meisten Türen waren geschlossen. Schwestern und Pfleger schoben Rollwagen mit dem Abendessen von Zimmer zu Zimmer.
»Ich bin nicht wegen der Erbschaftssache hier, damit soll sich der Notar beschäftigen«, sagte sie. »Ich kann Ihnen versichern, dass weder mein Vater – das haben Sie sich vermutlich schon gedacht – noch ich uns in die Angelegenheiten des Instituts einmischen werden. Das wäre ja auch ziemlich vermessen.«
Sternberg nickte, wofür sie ihm einen Sympathiepunkt abzog, sagte aber nichts dazu. Falls er so etwas wie Erleichterung empfand, verriet er es durch keine Regung.
»Mich interessiert vor allem das, was sicher auch schon die Polizei wissen wollte«, sagte sie. »Was hat Theodora an diesem Abend im Haus meiner Eltern zu suchen gehabt? Hat sie vorher irgendwas zu Ihnen gesagt?«
»Kein Wort. Ihre Stiefmutter und ich haben uns am Nachmittag gemeinsam eine Immobilie angesehen. Dieses Gebäude hier platzt aus allen Nähten. Die Refinanzierung eines Neubaus hätte sich über Jahrzehnte hingezogen – weit über unser beider Rentenalter hinaus. Dann eröffnete sich unerwartet eine andere Möglichkeit. Ebenfalls mit beträchtlichen Kosten verbunden, aber doch um einiges überschaubarer.« Er blieb stehen. »Sie haben sicher schon mal vom Anwesen der Familie von Stille gehört … Natürlich, Sie sind ja hier aufgewachsen.«
Anais runzelte die Stirn. »Das Stille Haus? Dorthin wollen Sie mit dem Institut ziehen?«
»Das stand jedenfalls zur Debatte.« Ein Schatten zogüber sein Gesicht, als er die Stimme senkte. »Jetzt ist die Situation natürlich eine andere, und wenn ich ehrlich bin, weiß ich im Augenblick nicht, wie es hier weitergehen wird. Ihre Stiefmutter hatte eine besondere Beziehung zum alten Freiherrn von Stille, er war einer unserer ersten Patienten, und –«
»Er ist hier?«, fiel sie ihm ins Wort. »Hier in der Klinik?«
»Aber ja. Er kam gleich in den ersten Monaten zu uns. Hat sie nie von ihm erzählt?«
»Unser Kontakt war nicht eng genug, fürchte ich.« Sie hatte nicht mal gewusst, dass der alte von Stille noch am Leben war. Er war eine dieser lokalen Gestalten, von denen sie als Kind manchmal gehört hatte, aber sie hatte seit vielen Jahren nicht mehr an ihn gedacht. Sie erinnerte sich dunkel an irgendwelche Kriegsverletzungen. Himmel, er musste uralt sein.
»Theodora war die Erste, die ihm helfen konnte. Neben den Kindern von Klammroth –« Sein Augenlid zuckte. »Entschuldigen Sie, ich sollte sie nicht so nennen. Natürlich sind sie alle längst erwachsene Männer und Frauen.«
»Damals waren wir Kinder. Daran ist nichts Falsches.« Und in gewisser Weise würden sie alle immer die Kinder von Klammroth bleiben, die Lebenden und die Toten.
»Nun«, sagte Sternberg, als er vor seiner Bürotür stehen blieb, »jedenfalls war Herr von Stille neben den Opfern der Tunnelkatastrophe der erste Patient, den Ihre Stiefmutter mit spektakulärem Erfolg behandeln konnte. Der Mann hat jahrzehntelang unvorstellbare Schmerzen durchlitten, aber seit er bei uns ist, geht es ihm viel besser. Immerhin seit fünfzehn Jahren.«
»Solange lebt er schon in der Klinik?«
»Er ist beileibe nicht der einzige Langzeitpatient, den wirhier haben.« Er deutete den Korridor vor seinem Büro hinunter. »Vielleicht doch erst ein Rundgang? Theodora hat Ihnen anscheinend nicht allzu viel von unserer Arbeit hier draußen erzählt. Wir sollten das nachholen.«
Anais zwang sich zu einem Nicken. »Okay.«
Während der nächsten zwanzig Minuten zeigte Sternberg ihr die verschiedenen Abteilungen des Instituts und hielt ihr einen Vortrag über die Bedeutung kontinuierlicher Patientenüberwachung, die Gewährleistung großflächiger Hauttransplantationen und den Stand der Technik in der Klinik. Er zeigte ihr die klimatisierten Einzelzimmer, die Personen- und Materialschleusen zu den hochsterilen Unterkünften der schweren Fälle und den Schockraum für Menschen mit akuten Verletzungen. Immer wieder lobte er sein Personal aus Intensivmedizinern, Pflegern, Physiotherapeuten und Psychotraumatologen.
Erst als sie wieder sein Büro erreichten und Sternberg sie hereinbat, erkundigte Anais sich
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