Klammroth: Roman (German Edition)
aber keinen. Sie hatte sich mit Die Verbrannten keine Freunde im Ort gemacht, aber Serpentinas Haut war vor einer Woche auf der Bestsellerliste gelandet, irgendwo im Mittelfeld, und es war nicht allzu abwegig, anzunehmen, dass es ein paar Exemplare davon auch in Klammroth gab. Vielleicht irgendwo in den Regalen, mit dem Rücken nach außen, damit keiner der Alteingesessenen auf die Idee käme, den Besitzer zu fragen, was für Schund er da verkaufe. Schlecht fürs Schulbuchgeschäft.
Vom Marktplatz aus blickte sie in zwei der abschüssigen Gassen, die hinab zum Fluss führten. Die unteren zwanzig Meter waren im Hochwasser verschwunden. Der Regen mochte gerade für ein paar Stunden innehalten, aber die Flut schoss aus den Bergen herab, spülte über die schmalen Auen und drang unaufhaltsam durch Gassen und Keller in den Ortskern vor. Bald würde das Wasser wohl den Markterreichen und auch die hochgelegene Uferstraße zur Brücke überschwemmen.
Wo die Straßenlaternen eingeschaltet waren, glänzte das nasse Pflaster; anderswo lag es in tiefer Dunkelheit, vor allem dort, wo keine Lichter in den geschlossenen Läden brannten. Klammroth wurde gleichermaßen von der Finsternis wie vom Wasser verschlungen.
Seit sie vor zwanzig Minuten losgegangen war, waren ihr gerade einmal drei Menschen und nur ein paar Autos begegnet. Jetzt aber kam ihr ein Wagen entgegen, seine Scheinwerfer blendeten sie. Auf dem Dach befand sich ein unbeleuchtetes Taxischild. Prompt hielt der Fahrer neben ihr an.
Die Fensterscheibe glitt nach unten. »Mit der Haarfarbe hätte ich dich fast nicht erkannt.«
Sie musste sich vorbeugen, um sein Gesicht zu sehen. »Sebastian … Hi.« Kurzes Schweigen, bis es fast unangenehm wurde. »Ich hab mich schon gefragt, ob du noch hier wohnst.«
Sein Lächeln sah aus wie damals, betonte aber nur, dass auch er fast zwanzig Jahre älter geworden war. Fältchen an den Augenwinkeln, Dreitagebart und insgesamt ein bisschen rauer. Auf der linken Wange trug er eine Narbe. Anais erinnerte sich düster, dass sich eine Scherbe der zerbrochenen Busfenster in sein Gesicht gebohrt hatte wie ein Kuchenmesser in eine hübsche Sahnetorte. Zudem hatte er schwere Verbrennungen davongetragen, aber die waren unter seinem Hemd verborgen. Die Monate vor Anais’ Flucht ins Internat hatte er auf einer Station für Brandopfer verbracht. Damals hatte es das Avila-Institut noch nicht gegeben, und die Kinder von Klammroth waren auf Kliniken in halb Deutschland verteilt worden.
»Ich hätte angenommen, es spricht sich gleich rum, wenndu wieder auftauchst«, sagte er. »Oder gehst du nur im Dunkeln vor die Tür?«
»Ich musste warten, bis der Scheiterhaufen nass war, den sie auf dem Marktplatz für mich bauen.«
»Ich hab das von der Frau deines Vaters gehört. Mein Beileid.«
Sie bemerkte, dass jemand auf der Rückbank seines Taxis saß. Eine Gestalt mit hochgeschlagener Kapuze. Anais konnte nicht erkennen, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte.
»Du musst weiter, oder?« Sie nickte in Richtung seines Fahrgasts. »War schön, dich mal wiederzusehen.«
Sebastian öffnete die Tür und setzte einen Fuß nach draußen. »Warte doch mal!«
»Ich hoffe, du hast wenigstens die Uhr gestoppt.«
»Wusstest du, dass ich mich geweigert habe, mich von ihr behandeln zu lassen?«
»Von Theodora?«
Er nickte. »Alle sind zu ihr in die Klinik gegangen, die meisten sind jetzt noch da oben in Behandlung. Aber ich war nur ein paar Mal dort und dann nie wieder.«
»Okay«, sagte sie gedehnt. Ein Regentropfen klatschte auf ihre Stirn.
»Ich meine«, fuhr er fort, »ich hab keine Ahnung, wer einen Grund hatte, sie umzubringen. Aber ich kann verstehen, dass irgendwer sie nicht leiden konnte. Sie hat nicht nur Gutes getan, auch wenn die meisten in der Gegend das glauben.«
Jetzt sah sie ihn mit neuem Interesse an. »Und das heißt was genau?«
Er deutete zur anderen Seite des Wagens. »Komm, ich fahr dich. Es fängt wieder an zu regnen.«
»Du hast Kundschaft.«
»Den kümmert das nicht.«
Noch einmal warf sie einen Blick ins Innere, sah aber nur den Umriss der Kapuze über dem Rücksitz.
»Er ist betrunken und schläft. Ich fahre ihn fast jeden Tag, außerdem lässt er anschreiben. Wir fahren ihn nach Hause, und dann bring ich dich … ich weiß nicht, bist du im Hotel?«
»Sattlers Pension.«
»Die liegt eh auf dem Weg. Dann kann ich dich zuerst absetzen. Es sei denn, du hast Lust, irgendwo noch was zu trinken.«
»Und
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