Klammroth: Roman (German Edition)
Zweifel kamen, sondern weil sie ihm in die Augen sehen wollte. »Lass das. Wir hauen einfach ab. Dieses Arschloch ist es nicht wert, dass du –«
»Glaubst du wirklich«, flüsterte sie, »ich mach das für ihn?«
Dann ließ sie Sebastian stehen, trat an die Feuerstelle, schob unter ihrem Rock das Höschen runter und hockte sich über den Kessel, das Gesicht der Gruppe zugewandt. Der Einzige, der vielleicht ein Stück von ihrem Hintern sehen konnte, war Erik, aber er kam eilig hinter dem Topf hervor und ging zu den anderen, so, als zollte er ihrem Mut Respekt.
Niemand sprach, während sie ihre Blase leerte. Anais sah nur Sebastian an und wünschte sich, sie könnte seine Gedanken lesen.
13
Am nächsten Abend igelte Lily sich in der Pension ein. Sie sagte, sie wolle chatten, aber Anais nahm an, dass ein weiteres Telefonat mit Phil auf dem Programm stand. Sie wusste, dass er heute auf seiner Tour einen freien Abend hatte, und an denen nahm er sich für gewöhnlich Zeit für seine Tochter. Schon vor der Trennung hatte er dann stundenlang mit ihr telefoniert – viel länger als mit Anais –, sich die kindlichen Geschichten aus der Schule und von ihren Freunden angehört und erstaunlich eloquent kommentiert. Anais und er mochten sich auseinandergelebt haben, aber er hatte Lily stets auf Händen getragen, ohne ein verwöhntes Gör aus ihr zu machen. Lily vergötterte ihn. Das war okay, nein, es war fantastisch, doch Anais tat es trotzdem weh, sich einzugestehen, dass sie ihm in den Augen ihrer Tochter niemals das Wasser reichen konnte.
Statt sich wegen Sebastians Einladung eine Ausrede einfallen zu lassen, hatte sie Lily die Wahrheit erzählt: Dass sie und er als Jugendliche zusammen gewesen waren, mehr als anderthalb Jahre lang bis zu dem Unglück im Tunnel, und dass sich das Ende der Beziehung in ihrem Blackout und Sebastians Klinikaufenthalt verlor. Lily hatte gemeint, ein Date würde ihr guttun, und Anais hatte darauf bestanden, dass es kein Date wäre, ganz und gar nicht, sondern ein harmloses Wiedersehen alter Freunde. Lily hatte sie angesehen, als hätte Anais ihr weismachen wollen, die Sache mit dem Weihnachtsmann sei nur ein Irrtum gewesen und natürlich komme er jedes Jahr vorbei und trinke in der Küche einen Schnaps zum Aufwärmen.
»Wenn du nicht mehr weißt, wie das mit euch zu Ende gegangen ist«, hatte Lily gesagt, »dann seid ihr eigentlich noch zusammen. Das ist wie ein Abo, das nach einem Umzug weiter an die alte Adresse geschickt wird, ohne dass man es merkt. Und dann findet nach Jahren jemand die neue Anschrift und lässt die Hefte nachsenden. Solange du keine Bestätigung für deine Kündigung hast, läuft das Abo weiter.«
Anais hatte sie angestarrt und befürchtet, dass Lilys Kopf im nächsten Moment um dreihundertsechzig Grad auf ihren Schultern rotieren würde, weil Phil in sie gefahren war und mit ihrer Stimme sprach wie der Dämon in Der Exorzist .
Um sieben holte Sebastian sie mit dem Taxi ab. Er parkte am Marktplatz und deutete in eine der engen Schneisen zum Fluss hinunter. Der Wasserpegel war weiter angestiegen, drei Viertel der Gasse waren überschwemmt. Die Keller der Häuser mussten bis zur Decke unter Wasser stehen, bei einigen auch schon die Erdgeschosse. Nirgends brannte Licht.
An einem Laternenpfahl war ein Schlauchboot festgebunden und aufs trockene Pflaster gezogen worden. »Willkommen an Bord«, sagte Sebastian und bedeutete ihr, sie möge einsteigen.
»Was hast du vor?«
»Wart’s ab.«
Er bestand darauf, dass sie zuerst ins Boot kletterte, um keine nassen Füße zu bekommen. Dann schob er es aufs Wasser und sprang hinterher. Mit einem Paddel ruderte er sie gemächlich die Gasse hinunter. Trotz des Dämmerlichts war zu erkennen, dass außerhalb der Häuser eine starke Strömung herrschte, aber hier im Ort schwappten nur sanfte Wellen gegen die Fassaden.
»Keine Sorge«, sagte er. »Es sind nur ein paar Meter.«
Er paddelte drei Häuser weit und hielt auf eine Lücke zu, in der eine gemauerte Außentreppe zu einer Haustür im ersten Stock führte. Zur Goldenen Rebe stand auf einem altmodischen Gasthausschild. Sebastian sprang ins Trockene, zog das Boot an die Stufen und verknotete das Tau am Geländer. Dann nahm er Anais am Arm und half ihr beim Aussteigen. Trotzdem patschte sie mit einem Fuß ins Wasser, er entschuldigte sich ein halbes Dutzend Mal dafür, aber sie winkte nur ab und ertappte sich dabei, wie sie seit Langem wieder ungezwungen
Weitere Kostenlose Bücher