Klammroth: Roman (German Edition)
gehe.«
Als Lily ein Kind gewesen war, hatte sie einer Freundin beweisen wollen, dass eine Frau ohne Haare nichts Besonderes war; natürlich, sie war ja mit dem Anblick von Anais’ Narben aufgewachsen. Aber dann hatte sie Anais mit der Unbefangenheit einer Sechsjährigen die Perücke vom Kopf gezogen, bevor die es hatte verhindern können. Lilys Freundin hatte geschrieen und geweint, und Lily selbst war nur Sekunden später völlig hysterisch geworden, weil sie die Wunden ihrer Mutter plötzlich mit den Augen des anderen Mädchens gesehen hatte: entsetzliche Verstümmelungen, die aussahen, als hätte man Anais’ Hinterkopf aus rosa Wachs geformt.
Sebastian zog ganz langsam seine Hand unter ihrer fort. Dann stieg er aus, eilte ums Auto und hielt ihr die Tür auf. »Wenn du noch willst«, sagte er.
Sie trat zu ihm ins Freie. Unter ihnen am Fuß des Berges lagen die östlichen Ausläufer der Stadt; ein Stück weiter links standen dort die letzten Häuser vor der Ortsausfahrt, die beleuchtete Reihe aus neogotischen Villen, in denen das Altenheim untergebracht war. Die Gärten, auf die ihr Vater durch sein Fenster blickte, gingen in der Dunkelheit in den verwilderten Weinberg über. Luftlinie war das von hier mehr als ein Kilometer, aber sie hatte unvermittelt das Gefühl, als könnte ihr Vater sie und Sebastian von dort unten aus sehen. Als würde sein Blick durch die Nacht streifen wie die Fledermäuse, die im Sommer über die Hänge jagten.
Das ehemalige Hotel der Teusners wirkte so unbewohnt wie die beiden anderen Gebäude weiter östlich am Bergmühlweg. Es war nicht groß – nur acht oder zehn Fremdenzimmer , wie das hier in Klammroth auch heute noch hieß. Als wollte man keinen Zweifel daran aufkommen lassen, dass Gäste nur geduldet waren.
Sebastian führte sie um die Fachwerkfassade zu einem Hinterhaus, das halb in den Hang hineingebaut worden war.Hier hatten früher Saisonarbeiter der Winzerbetriebe in Mehrbettzimmern gewohnt.
»Das Haupthaus steht leer«, sagte er. »Die Heizkosten waren zu hoch, die Isolierung eine Katastrophe. Nach dem Tod meiner Mutter hab ich das Hinterhaus renoviert und bin mit Nele dort eingezogen. An der Rückseite führt die Auffahrt den Hang hinauf bis in den ersten Stock. Das macht es leichter, wenn die Leute vom Institut kommen, um Nele abzuholen.«
»Hast du nicht gesagt, dass –«
»Dass ich mich nicht von deiner Stiefmutter hab behandeln lassen. Ja, weil ich eine Wahl hatte. Nele hatte die nicht.« Er blieb auf halber Strecke zum Hinterhaus stehen und hielt Anais am Arm zurück, vorsichtig, damit sie die Berührung nicht falsch verstand. »Vielleicht ist das wirklich keine gute Idee.«
Sie musterte ihn in der Dunkelheit und dachte, wie tief die Schatten auf seinen Zügen geworden waren. Als sie etwas sagen wollte, ertönte vom Haus her ein Schrei.
»Mein Gott«, flüsterte sie.
»Das ist sie. Die Schmerzen hören niemals wieder auf. Ihr Körper – das, was davon übrig ist – wehrt sich gegen Medikamente und Anästhetika. Manche Mittel stellen sie für ein paar Stunden ruhig, aber dann beginnt sie wieder zu schreien. Und dann schreit sie und schreit …«
»Das tut mir so leid.«
Er horchte nur in die Finsternis, und sie überlegte, ob das ein Fehler gewesen war. Er wollte kein Mitleid von ihr. Er wollte nur ein wenig von seinem Leben, wie es damals gewesen war, bevor die Busse in den Tunnel gefahren waren. Bevor aus seiner vierzehnjährigen Schwester etwas geworden war, das Anais sich kaum vorzustellen wagte. Heute mussteNele um die dreißig sein, sie hatte mehr als ihr halbes Leben in diesem Zustand verbracht.
»Okay«, sagte sie, »wir –«
Erneut schnitt ihr das unmenschliche Kreischen das Wort ab. Hinter einem Fenster im ersten Stock schaltete jemand das Licht ein. Sebastian hatte ihr von der polnischen Pflegerin erzählt, die er beschäftigte.
Wie konnte sie ihren Satz jetzt noch zu Ende führen, ohne dass es für ihn klingen musste, als wollte sie davonlaufen?
Er traf die Entscheidung für sie und zog sie an der Hand zurück zur Straße, eine Spur heftiger als nötig gewesen wäre.
»Entschuldige«, sagte er, als sie wieder vorn auf dem Bergmühlweg standen. Selbst im Dunkeln sah sie, wie geisterhaft blass er geworden war.
Sie tat etwas, das sie vor zehn Minuten noch nicht in Erwägung gezogen hatte. Mit der Hand berührte sie sanft seine Wange. »Ist gut«, sagte sie. »Komm, wir gehen noch ein Stück, wenn du magst.«
Er nickte
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