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Klammroth: Roman (German Edition)

Klammroth: Roman (German Edition)

Titel: Klammroth: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isa Grimm
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langsam. »Sie brüllt und stöhnt den halben Tag. Und meistens die ganze Nacht. Meine Mutter ist fast wahnsinnig geworden vor Selbstvorwürfen, weil sie Nele erlaubt hat, mit auf diesen Ausflug zu fahren. Die Lehrer wollten es nicht, weil sie doch zwei Klassen unter uns war, aber dein Vater hat gesagt, es wäre in Ordnung. Weil sie   … weil sie doch so   –«
    »An dir hing?«
    Wieder nickte er und wandte das Gesicht zur Seite. Es war gut, dass er noch weinen konnte, selbst nach all den Jahren. Sie wünschte sich, sie selbst wäre dazu in der Lage gewesen.
    »Meine Mutter hat morgens ein hübsches Mädchen mitblonden Zöpfen in die Schule geschickt«, sagte er stockend, »und zurückbekommen hat sie etwas, das aussieht, wie   …« Er schwieg wieder, holte tief Luft und setzte neu an: »Ich hab mal einen Artikel gelesen über diesen Maler, Francis Bacon. Nele sieht aus wie eines dieser Dinger auf seinen Bildern. Wie etwas   … Abstraktes   … Sie ist blind, sie redet nicht mehr, kann sich nicht aus eigener Kraft bewegen. Wäre sie ein Haustier, hätte man sie noch am Tunnel eingeschläfert.«
    Sie nahm seine Hand und führte ihn den Weg entlang zur Kreuzung. Noch einmal hörte sie das furchtbare Brüllen, aber jetzt klang es sehr weit entfernt, wie in einem Albtraum, aus dem sie fast schon erwacht war.
    Mit einem Mal wusste sie, wohin sie gehen wollte. Er hatte auch früher manchmal unter Gemütsschwankungen gelitten: im einen Moment der charismatische Anführer und im nächsten tieftraurig. Es gab einen Platz, zu dem sie dann oft gegangen waren und wo er so etwas wie Frieden gefunden hatte, wenigstens für eine Weile.
    Sie überquerten die Kreuzung und betraten den Feldweg zum Friedhof. Die Traktorspuren waren überwuchert, aber die Schneise war noch zu erkennen. Sie endete vor einer hohen Hecke. Damals hatte es dort ein Loch gegeben, durch das sie geschlüpft waren. Es musste längst zugewachsen sein, aber sie würden schon einen Weg hinein finden, selbst wenn sie außen herum zum Haupttor laufen mussten.
    Als sie das Gefühl hatte, dass er sich ein wenig gefangen hatte, ließ sie seine Hand los. »Wieder okay?«
    Sebastian brachte ein Lächeln zustande und nickte. Trotzdem sprachen sie nicht, bis nach einigen hundert Metern die Hecke vor ihnen auftauchte   – ein schwarzer Wall, der Anais so hoch und unüberwindlich vorkam wie einst, als sie selbst nur halb so groß gewesen war.
    Ein Rascheln ertönte, vielleicht im Dornengestrüpp der überwucherten Reben, womöglich auch hinter ihnen auf dem Feldweg. Der alte Weinberg musste voller Tiere sein, erst recht nach Einbruch der Dunkelheit.
    »Irgendwas geht da vor«, sagte Sebastian. Sie glaubte, er meinte die Laute, aber dann fügte er hinzu: »Drüben im Institut.«
    Das klang, als könnte er es von hier aus sehen. Dabei lag es kilometerweit entfernt auf der anderen Seite des Berges.
    Wieder das Rascheln.
    Sebastian blickte sich um, als hätten Neles Schreie Gestalt angenommen und folgten ihnen verstohlen durch die Dunkelheit. Auch Anais schaute zurück, aber es war viel zu dunkel, um mehr als die Umrisse der Büsche zu erkennen.
    »Ich bin sicher«, sagte er, »dass deine Stiefmutter die Schuld an allem trägt.«

15
    Die Öffnung von damals gab es nicht mehr, aber sie fanden eine Stelle, an der die Hecke abgestorben war und die Zweige sich auseinanderbiegen ließen. Von der anderen Seite aus war es nicht mehr weit bis zu dem kleinen Froschteich, der früher am Nordrand des Friedhofs gelegen hatte. Heute war er von einem Halbrund aus Gräbern eingefasst. In alle war dasselbe Todesdatum eingraviert.
    »Daran hatte ich nicht mehr gedacht«, sagte sie unbehaglich. Sie wollte mit ihm über das Institut sprechen, aber das hier hatte Vorrang. »Verdammt, so was vergisst man doch nicht einfach.«
    »Das sind die meisten von ihnen«, sagte Sebastian. »Nicht alle neunundachtzig, aber über sechzig. Die anderen liegen in Familiengräbern anderswo auf dem Friedhof.«
    »Das hier war damals eine Wiese. Irgendwo war eine Bank   … dort drüben! Wir haben da manchmal gesessen.«
    »Ziemlich oft sogar. Du hast gesagt, du wolltest den Fröschen zusehen   … Aber eigentlich hast du mich immer hergebracht, wenn es mir nicht gut ging.«
    »So oft war das nicht.«
    »Jedenfalls hat es meistens geholfen. Hat aber an dir gelegen, nicht an den Fröschen.«
    Sie wandte sich zu ihm um, weil er nun endlich wieder klang, als lächelte er. Sehen konnte sie ihn im Dunkeln

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