Klammroth: Roman (German Edition)
kaum, der Himmel war zu bedeckt, der Mond nur als schemenhafter Fleck zu erahnen. Trotzdem glänzte die Oberfläche des Tümpels in einem fahlen Schimmer.
Wie alle, die bei dem Unglück verletzt worden waren, warsie noch in der Klinik gewesen, als man die Todesopfer beerdigt hatte. Einige der Überlebenden mochten später die Gräber ihrer Freunde und Mitschüler besucht haben. Anais hatte das nie getan, weil sie genug mit den Vorwürfen der Lebenden zu tun hatte; sie hatte sich nicht auch noch vor den Toten rechtfertigen wollen.
Der Teich war ein Platz gewesen, der in ihren Gedanken nur ihr und Sebastian gehört hatte. Jetzt hatten ihn die Verstorbenen in Besitz genommen, belagerten sein Ufer, als wollten sie verhindern, dass Anais dorthin zurückkehrte.
»Lass uns ein Stück weitergehen«, sagte Sebastian. »Wenn du noch magst.«
Ein wenig unsicher nickte sie. Unsicher nicht wegen ihm, auch nicht wegen des nächtlichen Friedhofs, sondern weil sie mit einem Mal ein schlechtes Gewissen bekam. Hastig zog sie ihr Smartphone hervor. Keine SMS von Lily.
»Wartest du mal gerade einen Moment?«, bat sie.
»Wegen deiner Tochter? Glaubst du, sie macht sich Sorgen?«
»Ich ruf sie nur kurz an.«
Er ging allein zwischen den Gräbern zum Ufer und blickte über das Wasser zur anderen Seite, wandte ihr dabei den Rücken zu, die Hände in den Taschen. Anais telefonierte mit Lily, die aufgekratzt klang und sich offenbar den ganzen Abend über bestens mit ihren Freundinnen am Telefon amüsiert hatte. Anais hatte ihr vor der Fahrt nach Klammroth versprochen, die Monatsrechnung zu übernehmen, weil sie sich schuldig fühlte, eine Vierzehnjährige in die Provinz zu verschleppen und dort die meiste Zeit über allein zu lassen.
»Wir fahren gleich übermorgen früh«, sagte sie zum Abschluss des Telefonats, »ich versprech’s dir. Ich muss morgen noch diesen Kommissar treffen und ein paar Sachen erledigen, dann bin ich hier fertig.«
»Schon okay«, sagte Lily. »Ich hab’s mir schlimmer vorgestellt. Ich bin heute mal in der Stadt rumgelaufen. Das Hochwasser ist cool, fast wie Venedig.«
Vielleicht war das ja Klammroths Ausweg aus der Touristenmisere: Das ganze Nest im Fluss versenken und in Gondeln um den Kirchturm paddeln.
»Du bist nicht zu nah ans Wasser gegangen, oder?« Gott, sie hörte sich reden und versank im Boden.
»Doch, ich bin baden gegangen, Mum. Mitten in den Stromschnellen.«
»Ich mein’s nur gut. Hochwasser kann –«
»Total gefährlich sein. Ich weiß.«
»Alles klar. Du bist schon groß, und ich rede, als wäre ich neunzig. Tut mir leid. Gib mir noch ein, zwei Stunden, dann bin ich zurück, ja?«
»Wie läuft dein Date?«
»Ist keins.«
»Und wie läuft’s?«
Sie sah zu Sebastians schwarzer Silhouette hinüber. Er stand noch immer reglos am Ufer des Froschteichs. Erst einen Moment später bemerkte sie, dass er den Kopf leicht zur Seite geneigt hatte. So, als horchte er auf etwas draußen in der Nacht.
»Bis später. Schlaf gut!«
»Weck mich ja nicht, wenn du kommst.«
Anais gab ihr einen Kuss durchs Telefon und beendete das Gespräch.
Sie ging von hinten auf Sebastians Umriss zu und wollte ihm eine Hand auf die Schulter legen – als ihr klar wurde, dass er jetzt mit dem Gesicht zu ihr stand und sie beobachtete. Wann hatte er sich umgedreht? Je länger sie ihn ansah, desto deutlicher zeichneten sich in der Finsternis seine Züge ab. Sie wirkten wie aus Chrom geformt.
»Entschuldige«, sagte sie.
»Das klingt, als verstündet ihr euch ziemlich gut.«
»Ich hoff’s jedenfalls.«
»Sie ist jetzt so alt wie Nele damals.«
Sie wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte, und deutete auf den Kiesweg, der zum Haupteingang des Friedhofs führte. »Gehen wir? Du musst mir noch erzählen, was du eben gemeint hast. Wegen Theodora und dem Institut.«
Sie liefen ein paar Schritte, dann sagte er: »Hast du gewusst, dass sie vorher in der Klinik gearbeitet hat, in der ich auch gelegen habe?«
Anais schüttelte den Kopf.
»Nicht nur ich, eine ganze Reihe von uns. Wahrscheinlich ist sie so auf die Idee gekommen, hier aufzutauchen und ihr Institut zu gründen.«
»Sie war eine Opportunistin durch und durch.«
»Aber es ist schlimmer als das«, sagte er. »Sie hat sich an Nele und den anderen bereichert. Sie hat sie abhängig gemacht von ihren Medikamenten und hat an ihnen herumexperimentiert.«
Das Friedhofstor quietschte, als Sebastian es für sie öffnete. Auf dem kleinen Vorplatz
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