Klammroth: Roman (German Edition)
stattdessen geradeaus und blieb mit einem Fuß im Buschwerk stecken. Fluchend zerrte sie daran, verlor fast ihren Stiefel, bekam ihn frei und stolperte zurück auf den Pfad.
Das Getöse um sie herum hätten die Schritte von hundert Männern sein können, eine Treibjagd der Verbrannten. Aber auch Anais’ Haare hatten in Flammen gestanden, und sie trug Narben auf ihrem Kopf, die aussahen, als hätte man eine Badekappe mit einem Lötkolben bearbeitet. Sie war nicht unverletzt, sie hatte einfach nur Glück gehabt oder nicht so viel Pech wie der Rest. Wie Nele. Wie all die Toten am Teich unter ihren kalten, grauen Grabsteinen.
»Anais!« Ihr Name hallte einem Echo gleich durch das Geprassel.
»Lasst mich in Ruhe!«, schrie sie zurück und fand, dass es schwach und verletzt klang, gar nicht wie sie selbst – oder eben doch, aber mit sechzehn, als sie vor dieser Stadt und der Erinnerung an sie geflohen war. Und nun war sie wieder auf der Flucht, wusste nicht, warum, und ihrem dreiunddreißigjährigen Ich erschien es verlockend, einfach stehen zu bleiben, ihrer Vernunft zu gehorchen, das Gespräch zu suchen mit ihren Verfolgern, wie erwachsene Menschen das eben taten. Nur dass einer von ihnen versucht hatte, ihr den Weg abzuschneiden, und dies nicht dafür sprach, dass rationale Entscheidungen in den nächsten Minuten eine große Rolle spielen würden.
Auf dem glitschigen Untergrund wurde sie zu einem unbeholfenen Ausfallschritt gezwungen, fing sich aber wieder. Der Weg wurde breiter. Die Bäume schienen zu beiden Seiten zurückzuweichen wie Schaulustige, die befürchteten, in etwas hineingezogen zu werden, das sie nichts anging.
Es war eine Lichtung, vielleicht schon der Waldrand. Aber nein, unmöglich, dafür hätte sie bergab laufen müssen.
Wieder rief jemand ihren Namen, und diesmal war sie sicher, dass es Sebastian gewesen war. Darauf folgte ein unartikuliertes Brüllen, eine Woge solchen Zorns, dass Anaiswie von einem Windstoß weitergetrieben wurde, geradeaus durch hohes Gras und strömenden Regen, der ihre Sicht auf wenige Meter begrenzte. Vor ihr erschien ein Wall aus Brennnesseln und Disteln, ihr Fuß blieb an etwas hängen, sie stürzte nach vorn, fing sich mit den Handflächen ab und prallte schmerzhaft auf ihr rechtes Knie.
Hinter ihr ertönten Stimmen, die sie nicht verstand. Sebastian und noch jemand. Ein Mann. Hatte er so geschrien?
Sie wollte aufstehen, aber da spürte sie, dass unter ihren Händen kein aufgeweichtes Erdreich war, sondern Laub und darunter eine steinharte Oberfläche.
Vielleicht war es ja unvermeidlich gewesen.
Vielleicht war das hier ihr Schicksal, und ihr Leben war ebenso im Kreis verlaufen wie das der übrigen Kinder von Klammroth, nur war sie zu blind gewesen, um es zu bemerken.
Der Boden unter dem Laub war Asphalt, und das, worüber sie gestolpert war, eine scharfe Bruchkante. Jetzt erkannte sie sogar den Geruch wieder, trotz des Regens. Die ausgebrannte Feuerstelle, längst zu kohlschwarzem Schlamm zerlaufen. Rechts und links von ihr Wände, gerade noch am Rand ihres Sichtfelds. Hohe Ziegelmauern unter Ranken.
Und vor ihr, noch unsichtbar in der Finsternis, aber so präsent wie der Berg und der Nachthimmel – der Tunnel. Das stählerne Tor zur Vergangenheit.
»Anais!«
Sie hörte sie kommen, das Rascheln der Brennnesseln, das Ächzen mehrerer Männer, mindestens zwei , und ein schmerzerfülltes Stöhnen. Womöglich war einer gestürzt, und das gab ihr Zeit.
Sie sprang auf und lief weiter in die einzige Richtung,die ihr blieb, tiefer in die gemauerte Trasse hinein, in die ehemalige Einfahrt zum Tunnel. Der nasse Laubteppich war rutschig wie Eis, aber es gelang ihr, darüber hinwegzuschlittern, vorbei an der Feuerstelle, einem schwarzen Fleck wie ein bodenloser Schacht im Boden. Verschwommen hinter den Regenvorhängen sah sie die Graffiti, nicht länger farbig, sondern finsterer als das allgegenwärtige Dunkel.
Hinter ihr schrie wieder jemand, ein anderer rief ihren Namen, und diesmal musste sie einen Blick zurückwerfen.
Der Mann mit dem Knüppel war Erik.
Er sprang hinter Sebastian aus dem Brennnesseldickicht, einen Kopf größer als er, viel breiter und massiger, aber kaum langsamer.
Sie wirbelte herum, presste beide Hände gegen den rechten Flügel des Eisentors. Erst jetzt wurde ihr klar, dass es noch immer einen Spalt weit offen stand, dasselbe Stück, durch das sie mit Lilys Smartphone geleuchtet hatte.
Was sie vorhin gerochen hatte, war nicht das
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