Klammroth: Roman (German Edition)
klang jetzt sanft, als spräche er mit einem Kind. »Niemand kann dir verbieten, dort ein und aus zu gehen. Jedenfalls werden sie das nicht ohne guten Grund tun. Wir brauchen nur eine Schlüsselkarte, dann machen wir das zusammen. Morgen Nacht, dann kannst du übermorgen mit deiner Tochter verschwinden, wenn du das willst.«
»Du glaubst, Sternberg wird mir eine Schlüsselkarte für seine Klinik geben? Mal eben so?« War er wirklich so naiv?
Plötzlich schossen seine Arme vor und packten sie an den Schultern, fester noch als vorhin, als er sie von seinem Haus und Neles Geschrei fortgezogen hatte.
»Du bist mir das schuldig, Anais! Mir und Nele!«
»Ich … was?« Sie versuchte, seine Hände abzustreifen.Als ihr das nicht gelang, stieß sie ihn grob von sich. »Hier hat sich wirklich gar nichts geändert! Ich soll dir was schulden? Weil ich als Erste aus dem Tunnel raus bin? Weil ich nicht so schwer verletzt war wie der Rest? Oder nicht gestorben bin?« Sie starrte seine Silhouette an und konnte seine Augen nur erahnen. »Du kannst mich mal, Sebastian!«
Damit wandte sie sich um und ging den Weg zurück, den sie gekommen waren.
Sofort war er wieder bei ihr, hielt sie am Oberarm fest und schnitt ihr den Weg ab. »Warte.«
Sie versetzte ihm eine Ohrfeige. »Nicht anfassen!«
Tatsächlich ließ er sie los. »Glaubst du, so was macht mir noch irgendwas aus? Nach allem, was ich mit Nele durchgemacht habe?«
»Das tut mir leid für euch. Ganz besonders für sie. Aber ich lasse mir auch von dir keine Dinge sagen, vor denen ich mit sechzehn davongelaufen bin.«
»Aber das tust du doch gerade wieder. Du läufst davon!«
»Du Arschloch.« Sie blieb stehen, obwohl ihr klar war, dass er es nur darauf angelegt hatte.
Er funkelte sie an. »Deine Stiefmutter hat Neles Leiden ganz gezielt verlängert, um irgendwelche Versuche mit ihr zu machen! Was ist daran so schwer zu verstehen?«
»Das behauptest du. Hast du irgendeinen Beweis? Und selbst wenn es stimmt – das ist nicht meine Schuld! Theodora und ich haben uns gehasst. Ich bin nicht verantwortlich für das, was sie getan hat. Und ich hab auch nicht davon profitiert, nicht von ihren Erfolgen, nicht von ihrem Geld.« In einem Reflex krümmte sie die Finger zu Krallen, als wollte sie auf ihn losgehen. »Sag nie wieder, dass ich irgendwem in diesem Scheißkaff irgendwas schuldig bin! Das hab ichmir zu einer Zeit anhören müssen, als ich zu jung oder zu schwach war, um mich dagegen zu wehren. Und das ist lange her.« Auf einmal sanken ihre Arme schlaff an ihrem Oberkörper herab, weil seine Worte wie ein schleichendes Gift erst jetzt ihre ganze Wirkung entfalteten. »Ich bin es leid, weißt du? Leid, jeden Tag an den Tunnel zu denken. An Klammroth. An die Toten und an die Verletzten wie Nele. Ich bin nicht freiwillig hier, sondern weil ich keine Wahl hatte. Und ich werde nichts, absolut gar nichts tun, das dazu führen könnte, dass ich noch mal zurückkommen muss. Ich hab mit alldem nie wirklich abschließen können, egal wie weit ich auch weg war, aber jetzt ist es soweit. Mein Elternhaus wird abgerissen, mein Vater ist bis an sein Lebensende versorgt, und Theodora wird nie wieder eine Rolle in meinem Leben spielen. Wer immer sie umgebracht hat, falls jemand sie umgebracht hat – ich müsste ihm sogar noch dankbar sein.«
»Ich bin’s nicht gewesen«, sagte er. »Ich –«
»Du hast ein Alibi, das hast du schon gesagt! Und weißt du was? Mir ist das scheißegal! Wenn du sie getötet und das Haus meiner Eltern abgefackelt hättest, herzlichen Glückwunsch! Dann und nur dann wäre ich dir vielleicht was schuldig.«
Weil er im Weg stand, drehte sie sich um und lief weiter in die Richtung, in die sie ursprünglich gegangen waren. Sie konnte kaum den Boden vor sich sehen, war aber sicher, dass sie gleich an eine Kreuzung kommen musste, an der eine Abzweigung bergab zurück nach Klammroth führte. Als Kind hatte sie alle diese Pfade unzählige Male benutzt, zu Fuß und auf dem Fahrrad. Nicht einen Moment lang hatte sie Zweifel daran, selbst im Dunkeln den richtigen Weg zu finden.
Sebastian schien zurückzubleiben, denn sie konnte seine Schritte nicht mehr hören, aber sie blickte auch nicht nach hinten. Es war ihr egal, ob er ihr folgte oder nicht. Sie war fertig mit ihm, fertig mit allem hier. Wäre da nicht ihr Termin mit der Polizei gewesen, sie wäre auf der Stelle mit Lily aus Klammroth verschwunden.
Nach hundert Metern kam sie an eine weitere
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