Klammroth: Roman (German Edition)
alte Lagerfeuer gewesen. Es war derselbe Geruch, der sie seit siebzehn Jahren in ihren Träumen verfolgte: Gestank nach verbranntem Haar wehte aus dem Tunnel und hieß sie willkommen.
Das Tor ließ sich eine Handbreit weiter nach innen schieben, dann verklemmte es sich erneut. Der Spalt war noch immer schmal, als wäre er für die Sechzehnjährige gemacht, die einst von hier geflohen war.
Ein letztes Mal sah sie zurück.
Sebastian war fast bei ihr, hinter ihm Erik mit seinem Stock, der ihr nun so breit und schwer erschien wie ein junger Baumstamm. Er holte damit aus, während er rannte, und das gab den Ausschlag.
Sie atmete aus, presste sich mit dem Rücken gegen den Stahl und schob sich seitwärts ins Innere des Tunnels.
16
Die Stimmen an der Außenseite des Tors klangen wie die Rufe von Walen in Ozeantiefen, dumpf und träge, als wäre alles um Anais in Zeitlupe geronnen, die Bewegungen ihrer Verfolger ebenso wie die Worte, die sie ihr nachbrüllten, während die Dunkelheit sie verschluckte.
Eine Hand tastete hinter ihr her, Sebastian, der sie festhalten wollte, selbst aber nicht durch den Spalt passte. Sie spürte seine Finger an ihrer Schulter, doch dann entglitt sie ihnen schon, wich weiter zurück, erst nur einen Schritt rückwärts in die Finsternis, um das Tor nicht aus den Augen zu lassen. Als sie sicher war, dass keiner der Männer ihr folgen konnte, drehte sie sich um und stellte sich der Schwärze.
Sie hatte sich die Haut aufgeschürft, vielleicht ihre Kleidung zerrissen. Ihre Lunge rasselte von der Anstrengung, sie war klatschnass, und hier im Tunnel herrschte entsetzliche Kälte. Jeder Atemzug fühlte sich an, als steckten Nadeln in ihrer Luftröhre, und das machte ihr mehr zu schaffen als das Brennen der Schrammen. Ganz kurz verdrängte das Stechen sogar ihre Angst, doch das hielt nicht lange an. Als ihr Verstand nicht länger leugnen konnte, wo sie sich befand, übermannte die Furcht sie mit solcher Gewalt, dass sie fast in die Knie ging.
Etwas raste aus dem Dunkel auf sie zu wie eine unbeleuchtete U-Bahn. Wie ein Bus. Wind schlug ihr entgegen, fast eine Sturmbö, so, als würde im Näherkommen eine große Menge Luft verdrängt.
Ihr blieb keine Zeit für einen Schrei, denn im nächsten Moment war es heran. Sie schloss die Augen, bereit für denAufprall, aber dann ertönte hinter ihr ein ohrenbetäubendes Krachen, so laut, dass sie doch noch aufschrie, herumtaumelte, sich die Hände auf die Ohren presste und gleich darauf die Orientierung verlor.
Der graue Streifen des Torspalts war verschwunden. Etwas hatte sich von innen gegen den Eisenflügel geworfen. Falls Sebastian nicht im letzten Moment seinen Arm zurückgezogen hatte, musste das Tor ihn abgequetscht haben. Dann folgte ein zweiter Aufschlag, diesmal dumpf und weit entfernt, als wäre jemand von außen gegen das Metall geschleudert worden oder hätte in blinder Wut dagegen getreten. Im Tunnel hallte der Lärm von den Wänden wider, wummerte als verzerrtes Echo aus allen Richtungen zugleich.
Ihr erster Impuls war, sich hinzuhocken, die Arme über dem Kopf zu verschränken und abzuwarten, was geschehen würde, wie ein Kind, das sich unter der Bettdecke verkriecht und auf die schlurfenden Schritte vor der Zimmertür horcht oder auf das Kratzen von Fingernägeln am Fenster. Tatsächlich ging sie in die Knie, teils aus Verzweiflung, teils aus Schmerz, doch ihre stärkste Empfindung war Hoffnungslosigkeit. Sie fühlte sich ausgeliefert, reduziert zu einem Bündel aus Panik und Erschöpfung.
Der Wind im Inneren des Berges wehte noch immer, aber nicht mehr mit jener Macht, mit der er das Tor getroffen hatte. Sie versuchte, sich einzureden, dass es nur ein gottverdammter Tunnel war, eine nutzlos gewordene Röhre aus Ziegelstein und Fels. Aber natürlich war es viel mehr als das. Dies war der Geburtsort von allem, das sie geformt und zu dem gemacht hatte, was sie heute war. Sie war schon lange nicht mehr das Kind ihrer Eltern, sie war eine Schöpfung dieser Finsternis.
Sie hatte sich vom Berg verschlucken lassen, weil das für ein paar Sekunden wie das kleinere von zwei Übeln ausgesehen hatte. Jetzt aber empfand sie ein solches Vernichtungsgefühl, dass es sich anfühlte wie ein Schmelzofen aller Panikattacken, die sie jemals heimgesucht hatten.
Sie kauerte da, allein und ausgeliefert, und sie brachte nicht einmal mehr die Kraft auf, Sebastian und Erik dafür zu hassen oder sich die Frage zu stellen, warum sie überhaupt hier war und was
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