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Klammroth: Roman (German Edition)

Klammroth: Roman (German Edition)

Titel: Klammroth: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isa Grimm
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Kreuzung. Oder waren es zweihundert? Sie war nicht mehr so sicher wie vorhin, weil es hier noch finsterer war. Die Birken waren zurückgeblieben, stattdessen lief sie jetzt unter massigen Eichen und Buchen hindurch. Sie standen so eng, dass sich ihre Kronen miteinander verflochten und das schwache Mondlicht kaum mehr den Boden erreichte.
    Nun schaute sie sich doch noch um. Hinter ihr bewegte sich etwas, aber sie konnte nicht erkennen, ob es ein Mensch war oder doch nur der Wind im Unterholz. Sie zog ihr altes Smartphone hervor und wünschte sich, sie hätte eines mit integrierter Taschenlampe wie Lily. Stattdessen konnte sie nur das Display einschalten, aber sein Schein reichte nicht weit.
    »Sebastian?«
    Er gab keine Antwort. Vorhin war er unmittelbar hinter ihr gewesen, und sie bezweifelte, dass er umgedreht und nach Hause gegangen war.
    »Schon gut«, rief sie wütend ins Dunkel, »vergiss es!«
    Sie wandte sich der abschüssigen Abzweigung zu, kniff die Augen ein wenig zusammen, in der Hoffnung, zu erkennen, ob das wirklich der Weg war, an den sie sich erinnerte, entschied dann aber, dass es keine Rolle spielte. Der Pfad verlief bergab, also würde er irgendwann auf die Uferstraße stoßen.
    Sie hatte noch keinen Schritt in diese Richtung gemacht,als sie hörte, wie weiter unten etwas aus dem Unterholz brach. Erst schien es ein Tier auf allen vieren zu sein, aber dann richtete der Umriss sich auf. Der Mann war geduckt unter den tief hängenden Zweigen hervorgetreten, etwa zehn Meter entfernt. Er hielt etwas in der Hand, einen Stock oder Knüppel.
    »Sebastian?«, fragte sie jetzt leiser, wartete aber nicht auf eine Antwort, sondern warf sich herum, um nun doch den Weg zurück zum Friedhof zu nehmen.
    Nur dass sich auch dort etwas regte. Offenbar waren jetzt zwei Gestalten ganz in ihrer Nähe.
    Schritte scharrten in der Nacht und kamen näher. Sie spürte, dass es wieder regnete, vielleicht schon seit ein paar Minuten, aber jetzt wurde der Niederschlag so heftig, dass die Tropfen lautstark auf das vertrocknete Herbstlaub an den Bäumen schlugen. Von einer Minute zur nächsten war der Wald von so lautem Rauschen und Rascheln erfüllt, dass sie die Schritte in der Finsternis nicht mehr hören konnte.
    Es gab zwei weitere Wege, einer führte den Berg hinauf, der zweite nach Westen. Mit Sicherheit hatte sie beide vor vielen Jahren bereits benutzt, aber jetzt konnte sie nur daran denken, dass sie sich bergauf noch weiter von Klammroth entfernen würde. Zwar wies auch der andere Weg von der Stadt weg, aber dort blieb ihr zumindest die Möglichkeit, notfalls quer durch den Wald den Hang hinunterzulaufen, bis sie früher oder später auf den Fluss stieß.
    Der Regen schlug ihr eiskalt ins Gesicht, als ihre Panik die Oberhand gewann. Sie hörte Sebastians Stimme jetzt wieder in ihrem Rücken, ein gutes Stück entfernt und bei all dem Geprassel nur schwer verständlich. »Schlag dich nicht auf die Seite deiner Stiefmutter, Anais!«
    Am helllichten Tag hätte sie keine Angst vor ihm gehabt, wahrscheinlich nicht, aber das hier war sehr weit vom helllichten Tag entfernt.
    Links von ihr, weiter unten im Hang, brachen Zweige. Da bewegte sich jemand parallel zu ihr. Aber Sebastians Stimme war hinter ihr gewesen. Sie waren tatsächlich zu zweit. Die Erkenntnis ließ sie noch schneller laufen, achtlos durch Pfützen und Schlamm den schmalen Pfad entlang. Der Regen peitschte ihr in die Augen und drang durch ihre Kleidung. Sie hätte nicht frieren dürfen, nicht bei dieser Anstrengung, aber wenn es nicht die Nässe war, dann war es die Angst, die ihren ganzen Körper mit einer Gänsehaut überzog.
    »Anais!« Wieder Sebastian, jetzt näher. Er holte auf.
    Sie sah im Laufen über die Schulter, erkannte aber nichts. Mit Müh und Not gelang es ihr, auf dem Weg zu bleiben, wobei sie nicht mehr sicher war, ob sie nicht wirklich längst die Orientierung verloren hatte und Gott weiß wo ankommen würde, vielleicht am Avila-Institut, wo man sie einfangen und an einen Stuhl schnallen und Experimente mit ihr machen würde. In einem Anflug von etwas, das Galgenhumor zumindest nahe kam, sah sie Theodoras verbrannten Leichnam in einem Kittel durch Klinikgänge wandern, mit Händen aus Kanülen und Skalpellen, bloßliegenden Zähnen und geschmolzenen Augäpfeln, die ihr wie Honig über die verkohlten Wangen rannen.
    »Bleib stehen!«, rief jemand hinter ihr.
    Zu spät bemerkte sie, dass der Weg einen leichten Bogen nach links machte, lief

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