Klammroth: Roman (German Edition)
verstehen, aber sie spürte Widerwillen und Aggression, als sie auf den Knopf des Handys drückte.
Um sie entstand ein Hauch von Helligkeit.
17
Draußen vor dem Tor brüllte der Mann den Berg an.
Er schrie seinen Hass auf den Tunnel in die Nacht hinaus, seinen Zorn, seinen Schmerz. Das stählerne Tor warf die Laute zu ihm zurück, aber in Wahrheit war es vielleicht der Tunnel selbst, der ihn anschrie, ihn verhöhnte. Und als aus seinem Gebrüll hysterisches Gelächter wurde, da lachte auch der Tunnel.
Schließlich presste der Mann die Lippen aufeinander und zwang sich zur Ruhe. Jetzt beherrschte wieder das Regenprasseln die Finsternis, das Rauschen des Flusses unten im Tal. Monotone, ruhige Laute. Ein Zögern fast, ein Warten. Oder ein Lauern.
Der Mann drehte sich um und ging.
18
Als das Licht aufflammte, zog sich etwas von Anais zurück, so schnell, dass ihr Blick es nicht erfassen konnte. Schwarze, flattrige Formen wie die Plastiksäcke, von denen ihr Vater gesprochen hatte, nein, die sie selbst gesehen hatte, erst vor zwei Tagen, durch den Spalt des Eisentors. Sie schienen außerhalb des Lichtscheins einen pulsierenden Wall zu bilden wie Wände eines Organs aus purem Rauch, zuckend und wogend und doch zu unscharf, um sicher zu sein, dass da wirklich mehr war als nur der Irrsinn, der sie bedrängte.
Sie machte einen Schritt, wartete vergebens auf Reaktionen und wagt einen zweiten. Immer schneller bewegte sie sich durch eine Leere, in der es keinen Anhaltspunkt gab außer dem Boden. Dort entdeckte sie nach weiteren Schritten die schmutzigen, verschrammten Reste einer Mittellinie, die ihr die Wahl zwischen zwei Richtungen ließ. Sie lief weiter, wurde wieder schneller, sah keine zwei Meter weit und fror so erbärmlich, dass es immer schwerer wurde, das Handy festzuhalten und das Licht nach vorn zu richten. Irgendwann würde sie wieder an eines der geschlossenen Tore gelangen. Sie wusste nicht, ob sie eine Chance bekäme, es zu öffnen, ob ihre Kraft dazu ausreichte und was sie draußen erwartete.
Etwas rammte sie von hinten, und sie wurde so heftig nach vorn geschleudert, dass das Handy ihrem feuchten Griff entglitt, scheppernd aufschlug und erlosch. Sie aber blieb auf den Beinen, brüllte wutentbrannt auf und stürmte ohne innezuhalten weiter.
Die Wucht, mit der sie gegen das Eisentor stieß, gab ihr beinahe den Rest. Schreiend prallte sie zurück und hörte wieder das Wispern von allen Seiten, das Kichern und Rumoren in der Schwärze. Trotzdem tastete sie über die Oberfläche, fand eine Metallschiene und gleich darauf einen Griff. Mit aller Kraft zog sie daran, spürte, wie das Tor allmählich nachgab, fühlte zugleich wieder die fremden Hände auf ihren Schultern, an ihrer Taille, an ihren Beinen. Sie wollten sie nach hinten ziehen, zitternd und bebend und so weich, als wären sie aus nassem Pergament, das zwar berühren, aber nicht zugreifen konnte.
Sie hatten das Tor schon einmal geschlossen und hätten es gewiss abermals tun können, aber diesmal ließen sie Anais gewähren. Falls es einen Grund dafür gab, so verstand sie ihn nicht.
Das Tor schwang ein Stück weit nach innen. Regen peitschte ihr entgegen. Das Flüstern erreichte einen irren Höhepunkt, wurde zu einem Rauschen und Prasseln wie Regen auf Laub, und nun lachte niemand mehr.
Anais schob sich ins Freie und begriff, dass sie wieder am Osttor war, durch das sie den Tunnel betreten hatte. Sie konnte niemanden sehen und hörte nur den infernalischen Niederschlag, der in kalten Fäden von der Felswand in die Schneise zwischen den Ziegelmauern troff.
Der Gestank von brennendem Haar folgte ihr ins Freie. Und etwas anderes, nun doch noch ein Raunen, das sie verstand, ohne Worte zu hören. Ein Ruf und ein Flehen, und sie dachte, dass sie diese Stimme erkannte, weil sie einst einem Mädchen gehört hatte, das so alt gewesen war wie sie selbst.
Christinas Stimme.
Dann fiel das Tor hinter ihr zu und schnitt ein enttäuschtes Heulen ab. Es klang wie der Ton einer Weltkriegssirene.
Z WEITER T EIL
SERPENTINAS HAUT
Siebzehn Jahre später
19
Später wusste sie nicht mehr, wie lange sie gebraucht hatte, um den Weg hierher zu finden. Und warum sie überhaupt diesen Weg eingeschlagen hatte.
Sie öffnete die Augen. Es herrschte noch immer tiefdunkle Nacht. Der Regen fiel in Strömen, aber sie lag im Trockenen, verkrümmt auf der Seite. Das Erste, was sie sah, war ein offenes Fenster in einer schwarzen Wand, und sie hörte, wie Tropfen auf der
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