Klammroth: Roman (German Edition)
und sie dachte vor allem an Lily, die wahrscheinlich schon aufgewacht war und festgestellt hatte, dass ihre Mutter in der Nacht nicht zurückgekehrt war. Nach kurzem Abwägen entschied sie, den kürzesten Weg hinunter nach Klammroth zu nehmen. Er hatte zudem den Vorteil, dass er nicht an Sebastians Haus vorbeiführte.
Der alte Pfad durch den Weinberg existierte noch, obwohl auch er von Buschwerk und Unkraut bedrängt wurde. Am Fuß des Gartens, der in drei Terrassen unterhalb des Hauses angelegt war, führte der Weg fast schnurgerade den Hang hinunter. Schließlich kam sie an den Zaun, der an der Rückseite des Altenheims verlief. Durch das schmiedeeiserne Gitter sah sie, dass die asphaltierten Fußwege verlassen waren. Hastig ging sie an der Umzäunung entlang, ohne nach dem Fenster ihres Vaters Ausschau zu halten. In den meisten Zimmern brannte bereits Licht, vielleicht auch in seinem. Ihr war unwohl bei der Vorstellung, sie könnte ihn dort sitzen sehen.
Endlich erreichte sie einen Durchgang zur Uferstraße. Das Hochwasser hatte fast die Fahrbahn erreicht. Nur weil die Straße erhöht auf einem Betonwall verlief, war es ihr noch nicht so ergangen wie den tiefer gelegenen Teilen der Altstadt.
Autos passierten sie ohne abzubremsen. Als sie die leere Telefonzelle hinter sich ließ, kam ihr die erste Fußgängerin entgegen. Die Frau trug Brandnarben im Gesicht, doch Anais erkannte sie nicht. Ohne sich umzudrehen, spürte sie ihre argwöhnischen Blicke im Rücken. Im Ort begegnete sie weiteren Passanten, aber lediglich einer erkundigte sich, ob sie Hilfe brauche. Zwei alte Frauen tuschelten. Alle anderen starrten sie nur an.
In der Pension angekommen, winkte sie ab, als der Mann an der Rezeption sie ansprach, und lief hastig die Treppe zu den Gästezimmern hinauf. Der Schlüssel steckte noch in ihrer Jacke, aber sie klopfte trotzdem, ohne genau zu wissen, warum.
»Lily?« Sie fingerte den Schlüssel hervor und schob ihn ins Schloss.
Drinnen herrschte Dämmerlicht, die Vorhänge waren zugezogen.
Lilys Bett war leer und zerwühlt.
»Lily?«
Das Mädchen lag in Anais’ Bett, hatte sich die Decke bis zu den Ohren gezogen und das Gesicht zum Fenster gewandt.
»Hey, Lily …«
Anais drückte die Tür hinter sich zu und setzte sich zu ihrer Tochter auf die Bettkante. Lily hatte schon als Kleinkind einen gesegneten Schlaf gehabt, und in der Pubertät war sie zu einer Langschläferin geworden, die ganzeWochenenden im Bett verbrachte, nur mit Handy, Laptop und einem alten Stofftier, von dem sie sich noch nicht trennen wollte.
»Hm?«, machte sie ungehalten und wollte Anais abschütteln. Die sah erst jetzt, dass sie einen dunklen Handabdruck aus Ruß und Schlamm auf dem Bettzeug an Lilys Schulter hinterlassen hatte. Sie wollte das Mädchen schon schlafen lassen, ganz froh darüber, dass sie offenbar nicht vermisst worden war, als Lily aufschreckte.
»Wo warst du?« Sie blinzelte, griff zum Vorhang hinüber und zerrte ihn ein Stück beiseite. Als das graue Licht auf Anais fiel, riss sie die Augen auf. »O Gott, was ist passiert? … Bist du in Ordnung? … Warum bist du –«
»Mir geht’s gut«, sagte Anais.
»Ja. Total. Das seh ich. Wo hast du gesteckt? Ich war bis nach zwei wach und hab drauf gewartet, dass wenigstens eine SMS kommt. Ich hab dir mehrere geschickt, aber du warst ja …« Sie hatte wohl beschäftigt sagen wollen, als ihr wieder bewusst wurde, in welchem Zustand ihre Mutter war. »War er das? Was hat er –«
»Nein«, unterbrach Anais sie beschwichtigend. »Außerdem bin ich hier die Mutter und sollte mir Sorgen um dich machen, nicht umgekehrt.«
»Hast du … ich meine, war das ein Unfall?«
»So was in der Art.«
Lily schlug die Decke zurück, kletterte in ihrem bunten Sleepshirt an Anais vorbei aus dem Bett und richtete sich anklagend vor ihr auf. Ihre nackten Beine waren voller Sommersprossen. Wann hatte sie die bekommen? Sie hatte schon immer ein paar im Gesicht gehabt, aber so viele? Wann waren Anais und sie zuletzt gemeinsam baden gewesen, so wie früher?
»Ich seh dich viel zu selten«, sagte Anais leise.
»Hast du mal in den Spiegel geguckt? Wie du aussiehst? Als hättest du … ich weiß nicht … Ist das Ruß? Du riechst so verbrannt.« Ihr wurde bewusst, was sie da gesagt hatte. »Sorry … Aber trotzdem, du stinkst!«
Anais versuchte es mit einem Lächeln. »Wirklich, ist nicht so schlimm. Ich war noch mal oben im Haus und da …«
»Was da?«
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