Klammroth: Roman (German Edition)
sie ein Knie auf die Fensterbank setzte, wurde sie von einer knöcherigen Hand im Nacken gepackt. Eine zweite schob sich von hinten über ihre Augen und drehte Anais herum.
Der Impuls, sich zu wehren, verging schlagartig. Ihr freier Wille schwand, als der Schock durch ihren Körper raste und ihre Nerven betäubte. Sie konnte nichts sehen; die fremde Hand lag auf ihren Lidern und drückte sie unnachgiebig zu.
Dann spürte sie, wie ein Mund sich auf ihren presste.
Ein letztes Mal regte sich Widerstand in ihr, doch nur ihre Finger auf der Fensterbank zuckten.
Seine Lippen waren rau wie Rinde und schmeckten nach Stein.
20
Später, im Morgengrauen, erwachte sie zum zweiten Mal und hatte keine Schmerzen mehr. Das war ihre erste Empfindung, noch vor dem unausweichlichen Ekel und der Scham und dem puren Entsetzen: Ich habe keine Schmerzen mehr.
Sie befand sich noch immer in ihrem ehemaligen Kinderzimmer. Im grauen Halblicht erkannte sie, dass sie inmitten des ausgebrannten Bettgestells lag. Die Matratze und der hölzerne Lattenrost waren fort, aber der Metallrahmen stand ausgeglüht vor der Wand, schwarzfleckig vom verbrannten Lack. In Embryonalhaltung lag sie im Zentrum des Rahmens auf dem Boden, als hätte sie instinktiv jenen Ort aufgesucht, von dem sie sich als Kind den größten Schutz versprochen hatte.
Verschwommen kehrte die Erinnerung an die Nacht zurück, sie schreckte hoch und blickte an sich hinunter. Sie war vollständig bekleidet, schmutzverkrustet von ihrem Lauf durch den Wald und von der nassen Asche hier im Haus. Was immer in der Nacht mit ihr geschehen war, es war keine Vergewaltigung gewesen. Auch wenn es sich im Rückblick fast so anfühlte.
Er hatte sie geküsst. Es hatte sie geküsst.
Mit einem Stöhnen wischte sie sich über den Mund und verteilte dabei noch mehr Dreck auf ihrem Gesicht. Sie achtete nicht darauf, rieb kräftig mit dem Handrücken über ihre Lippen, bekam die Mischung aus Ruß und Schmutz in den Mund, konnte aber trotzdem nicht aufhören. Erst allmählich gewann sie Kontrolle über ihren Ekel. Sie warsicher, dass sie sich den Fremden nicht eingebildet hatte. Es war nicht Sebastian gewesen, auch nicht Erik. Sie erinnerte sich vage an die Berührung seiner Hand und an ledrige Lippen. Dann nur noch an Dunkelheit.
Sie stand auf, steif vom Liegen, schwindelig wie nach zu viel Alkohol, und stellte fest, dass sie sich mühelos bewegen konnte. Wahrscheinlich nur ein eingeklemmter Nerv, der wieder in seine ursprüngliche Lage gerutscht war.
Einen Moment lang musste sie sich an der Wand abstützen und stand schließlich fest auf beiden Beinen, noch immer inmitten des Bettgestells. Ihre Armbanduhr war kaputt, ein Zeiger lag abgebrochen hinter dem gesplitterten Glas. Das musste bei einem ihrer Stürze im Tunnel passiert sein.
Vor dem zerstörten Fenster dämmerte ein Herbsttag herauf, sie nahm das sanfte Rauschen des Regens wahr. In weiter Ferne erklang eine Kirchenuhr, aber Anais war zu benommen und kam zu spät auf die Idee, die Schläge mitzuzählen. Sechs, eher sieben, schätze sie.
Der Gedanke, dass der andere noch hier sein könnte, meldete sich so zeitverzögert wie der Rest ihrer Wahrnehmungen. Sie stolperte über den Rand des Bettgestells und presste sich an die Wand neben dem Fenster. Horchte ins Haus und in ihr Inneres. Das eine Schweigen war so wohltuend wie das andere. Vielleicht hatte sie einfach alle Hysterie und Panik in der vergangenen Nacht aufgebraucht.
Ihr Blick suchte den Boden nach Spuren ab, doch da waren zu viele, die meisten verwischt. Ihre eigenen, natürlich, dann die der Männer von der Versicherung und vom Abrissunternehmen, mit denen sie gestern das ganze Haus abgegangen war.
Trotzdem war sie sicher, dass sie sich den Fremden nichteingebildet hatte. Aber warum hatte sie sich nicht gewehrt? Weshalb hatte sie zugelassen, dass er ihr die Augen zuhielt?
Und sie küsste.
Diesmal erbrach sie Galle und Speichel. Eine Weile lang stand sie vornübergebeugt, stützte sich mit den Händen auf ihre Knie und suchte in ihrer Erinnerung nach Antworten. Da war nichts. Nur der Kuss – und dann Leere.
Leicht schwankend ging sie zur Zimmertür, horchte erneut und machte sich auf den Weg den Korridor hinunter, vorbei an all den ausgebrannten Zimmertüren. Niemand hielt sie auf.
Schließlich stolperte sie ins Freie und dachte, dass sie wie jemand aussah, der tagelang unter Trümmern begraben gewesen war. Aber ihre Kräfte kehrten zurück, der Schwindel ließ nach,
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