Klammroth: Roman (German Edition)
war das eben seine Art, einen Bart zu tragen. Ohne ihn hätte er wahrscheinlich zehn Jahre jünger ausgesehen, knapp über dreißig. In Wahrheit mochte er um die vierzig sein. Seine Stimme klang an diesem Morgen wie fünfzig.
»Hier werden wir keinen mehr bekommen.« Anais deutete auf die Fassade der Pension. Es war kurz nach zehn, der Frühstücksraum bereits geschlossen. Sie hatte versucht, noch ein wenig zu schlafen, aber das war nutzlos gewesen. Sicher sah sie um einiges schlimmer aus als Herzog; sie gaben ein ziemlich zerknautschtes Paar ab, wie sie so vor dem Eingang im Regen standen. Er hatte eine Kapuze, aber keinen Schirm, und sie spürte die Nässe ohnehin nicht mehr. Dafür die Erkältung, die sie sich in der Nacht geholt hatte.
Herzog hatte hellbraunes Haar, eine Menge davon, das bis auf seinen Kragen fiel. Er trug eine Art Parka in verwaschenem Grün, mit aufgesetzten, übervollen Taschen. Seine Augenbrauen waren buschig, seine Nasenflügel breit. Er sah aus wie jemand, der im Urlaub zum Angeln nach Kanada flog und mit Kindern aus einer gescheiterten Beziehung Baumhäuser baute.
»Wir finden schon irgendwas, wo es Kaffee gibt«, sagte er zuversichtlich. »Sogar hier in Klammroth. Und dann würde ich gern mit Ihnen woanders hinfahren.«
»Woanders?«
»Spannend, oder?«
Sein alter Ford war aufgeräumter, als sie erwartet hatte. Als sie einstieg, fiel ihr ein kleiner Aufkleber neben dem Radio auf, Wacken 2006 . Herzog bemerkte ihren Blick und lächelte. »Den haben meine Kollegen dahin geklebt.«
»Wer sonst?«
Während der Motor ansprang, drückte er das Radio aus, damit sich das CD-Laufwerk nicht einschaltete. Er fuhr mit ihr in Klammroths Gewerbegebiet, holte ihnen zwei Kaffeebecher aus dem kleinsten McDonald’s der Welt und rauschte zwischen Wasserfontänen über die versinkende Uferstraße zum östlichen Ortsrand. Sie passierten das Pflegeheim und bogen nach links ab, um die Berge zu überqueren. Es war dieselbe Richtung, in der auch das Avila-Institut lag, aber er nahm eine andere Straße.
»Sie wollen zur Klinik?«
»Nein. Sie waren schon dort, hab ich gehört.«
»Von ihren Spitzeln hinter den Büschen?«
»Ich hab Sternbergs Sekretärin angerufen.«
»Ich war vorgestern bei ihm. Wir kannten uns noch nicht.«
»Was halten Sie von ihm?«
Sie war überrascht, dass er ihr diese Frage stellte. »Ich schätze, ich hab noch keine Meinung.«
»Kommen Sie. Irgendwas müssen Sie doch gedacht haben.«
Er schien sich zu bemühen, das hier nicht wie ein Verhör klingen zu lassen und ihr die Nervosität zu nehmen. Aber seit der letzten Nacht brütete sie über ganz anderen Dingen, vor denen sie sich fürchtete.
»Sternberg hat mich herumgeführt. Und er war sehrsachlich. Er hat mir sein Beileid ausgesprochen, aber er hat nicht so getan, als wäre meine Stiefmutter seine beste Freundin gewesen oder er am Boden zerstört.«
»Sie glauben, die beiden mochten sich nicht?«
»Das hab ich nicht gesagt.«
»Aber angedeutet.«
»Ich kannte sie nicht viel besser als ihn, um ehrlich zu sein. So gut wie gar nicht.«
»Sie war immerhin die Frau ihres Vaters.«
»Ich hab Klammroth verlassen, kurz nachdem sie aufgetaucht ist.«
Er nickte, weil er das natürlich wusste. »Sie waren im Internat. War das die Idee Ihrer Stiefmutter?«
»Sie meinen, ob ich sie als Siebzehnjährige so sehr gehasst habe, dass ich mit über dreißig zurückgekommen bin und sie bei lebendigem Leib verbrannt habe? Ich dachte, Sie haben mein Alibi überprüft.«
»Woher wissen Sie, dass sie noch gelebt hat?«
Zum ersten Mal stockte sie. »Das hab ich nur so gesagt. Wahrscheinlich war sie schon tot, oder?«
»Wir haben keine Informationen dazu herausgegeben.«
»Dann bin ich wohl in Ihre Miss-Marple-Falle getappt und gestehe am besten gleich hier und jetzt.« Sie sagte das ganz ruhig, und ihr war bewusst, dass sie zu weit ging. »Entschuldigen Sie. Ich hab nur schlecht geschlafen. Und ich weiß nicht, was da oben im Haus passiert ist. Ich bin wohl einfach davon ausgegangen, dass sie noch am Leben war, als das Feuer ausgebrochen ist.«
»Hätten Sie sich das gewünscht?«
»Nein.« Keine Lüge, nicht mal geschwindelt, und trotzdem fühlte sie sich, als hätte er sie bereits einer unausgesprochenen Schuld überführt.
Er lächelte wieder. »Gut. Ich bin wirklich erleichtert, dass Sie keine Mörderin sind.«
»Ich hätte Ihnen das Buch auch in Handschellen signiert.« Sie deutete mit einem Nicken zur Rückbank.
»Ach,
Weitere Kostenlose Bücher