Klammroth: Roman (German Edition)
Fensterbank zersprangen. Es roch so verbrannt, dass sie im ersten Moment glaubte, in der Nähe müsse noch immer ein Feuer toben. Aber alles hier war kalt und nass und still und dunkel –
– und das Maul des Tunnels schoss auf sie zu wie ein Raubfisch.
Sie schrie auf, als ein Teil ihrer Erinnerung zurückkehrte. Die Berührungen, das Kichern und Heulen, dann die Nacht und das Unwetter. Sie war gelaufen, immer schneller gelaufen, durch den Wald Richtung Friedhof, und dort verblassten die Bilder. War sie wirklich noch einmal am Teich gewesen, inmitten der stillen Gräber? Hatte sie am Ufer gestanden und ins aufgewühlte Wasser geblickt, auf ihr verzerrtes Spiegelbild, zertrümmert von Tausenden Regentropfen? Oder war sie gleich weitergerannt, blindlings in den Bergmühlweg, vorbei an der dunklen Fassade des Teusnerhotels, begleitet von den gequälten Schreien aus dem Hinterhaus?
Und was, um Himmels willen, hatte sie zurück in ihrKinderzimmer geführt, in die ausgebrannte Ruine ihres Elternhauses?
Sie hatte von ausgesetzten Hunden gehört, die sich mit letzter Kraft zurück zu ihren Besitzern schleppten, ganz gleich, wie sehr sie von ihnen misshandelt worden waren. So fühlte auch sie sich, nur dass es den Eindruck hatte, als wäre diese Rückkehr nicht ihre Entscheidung gewesen. Als hätte etwas von ihr Besitz ergriffen, das sie dorthin zurückgeführt hatte, wo sie sich vor langer Zeit einmal sicher gefühlt hatte.
Sie rollte sich auf den Rücken, ungeachtet des verkohlten Morasts unter ihrem Körper, und schrie auf, weil der Schmerz unerträglich wurde. Etwas zwischen ihren Schulterblättern war verletzt, womöglich von all den Stürzen im Wald und wer weiß wie vielen anderen während der Zeit, an die sie keine klare Erinnerung besaß. Dann dachte sie an die Macht, die sie im Tunnel gerammt und niedergeworfen hatte, und sie fragte sich, ob Prellungen wirklich so wehtun konnten. Vielleicht waren Knochen gebrochen, sogar Wirbel, oder Sehnen gerissen. Doch dann hätte sie es niemals bis hierher geschafft, die ganzen zwei oder drei Kilometer vom ausgebrannten Tunnel an den Schauplatz eines zweiten Feuers, das die Überreste ihrer Kindheit verzehrt hatte.
Sie wollte aufstehen, hatte aber Zweifel, dass ihr das gelingen würde. Wie lange hatte sie hier auf dem Boden gelegen? Nur Minuten oder Stunden? Sie musste das Bewusstsein verloren haben. Ihr nächster Gedanke galt Lily, die allein in der Pension war und sich Gedanken machte oder einfach nur wütend war, weil das Date, das keines war, dafür gesorgt hatte, dass ihre Mutter die Nacht über fort blieb. Sie musste Anais für unzuverlässig halten, aber sie würde deshalb nicht die Polizei oder sonst wen rufen, sondern irgendwann einschlafen und sich allerfrühestens bei Tagesanbruch ernsthaft Sorgen um sie machen. Bis dahin waren es angesichts der Finsternis dort draußen wahrscheinlich noch Stunden.
Irgendwie musste sie auf die Füße kommen, ganz gleich, wie groß der Schmerz in ihrem Rücken war. Auch ihre Beine taten weh, ihre Arme, und überhaupt fror sie so erbärmlich, dass ihre Zähne klapperten. Tränen schossen ihr in die Augen. Sie brüllte abermals, aber schließlich richtete sie ihren Oberkörper auf und schob sich rückwärts gegen die Wand. Dort lehnte sie dann, zitternd und heulend, mit aufgebissener Unterlippe, aus der Blut in ihren Mund sickerte, das nach Eisen und Asche schmeckte.
Es war beinahe stockdunkel in dem ausgebrannten Haus, und dennoch war die Schwärze nicht vergleichbar mit der im Tunnel. Durch das zerschmetterte Fenster fiel ein Hauch von Helligkeit, zu zaghaft, um mehr als Umrisse aus dem Dunkel zu schälen; wahrscheinlich der Schein der fernen Straßenlaternen von Klammroth auf der Unterseite der Regenwolken. Auch draußen im Flur war es nicht so nachtschwarz, wie es eigentlich hätte sein müssen. Da erinnerte Anais sich, dass das Haus kein Dach mehr besaß. Hier im ehemaligen Kinderzimmer war die Decke noch vollständig, aber da das Feuer im Elternschlafzimmer ausgebrochen war, musste es sich dort durch den Holzfußboden des Speichers gefressen haben. Seither lagen auch Teile des Korridors unter freiem Himmel.
Eine innere Stimme raunte ihr zu, lieber aufzugeben und sitzen zu bleiben, bis man sie finden würde, spätestens wenn das Abrissunternehmen in zwei Tagen anrückte. Sie tastete in ihrer Jackentasche umher und fand die Metallmarke, die sie eingesteckt hatte, vergaß sie aber gleich wieder, als ein Scharren an ihre
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