Klammroth: Roman (German Edition)
Ohren drang.
Jemand war im Haus. Er war gegen die Trümmer gestoßen, die überall in den Räumen lagen: verbrannte Möbel, Reste der Decken und Teile des Dachstuhls.
Der Laut wiederholte sich. Nicht weit entfernt, schon bei ihr im ersten Stock. Draußen im Flur oder in einem der angrenzenden Zimmer.
Sie presste die Lippen aufeinander und versuchte, noch leiser durch die Nase zu atmen. Sebastian musste ihr gefolgt sein. Womöglich hatte er Erik dabei, der ihr mit seinem Knüppel den Rest geben wollte.
Eriks Vater, der Busfahrer, war einer der Überlebenden gewesen, die es am schlimmsten getroffen hatte – genau wie Nele. Er war vor einigen Jahren gestorben und von seinen Qualen erlöst worden, aber das mochte die Wut seines Sohnes nicht mindern. Teilte er Sebastians Hass auf Theodora? War es das, was die beiden verband?
Erik selbst hat mir das erzählt , hatte Sebastian gesagt, als er die Unterstützung ihres Vaters für Erik erwähnt hatte. Schon da hätte Anais ahnen müssen, dass die beiden unter einer Decke steckten.
Glaubte auch Erik, dass die Qualen seines Vaters von Theodora in Kauf genommen, womöglich provoziert worden waren?
Und waren hier eigentlich alle verrückt geworden?
Nun herrschte wieder Ruhe, nur der Regen klatschte aufs Fensterbrett. Sie wagte nicht, sich zu bewegen. Falls jemand den Raum betrat, musste er sie unweigerlich entdecken. Von ihrem Platz aus blickte sie in schrägem Winkel auf die ausgebrannte Flurtür; umgekehrt konnte sie erst von den letzten Metern des Gangs aus gesehen werden.
Aber falls jemand das Haus durchsuchte, würde er in jedes Zimmer schauen. Auch in dieses.
Auf dem Korridor erklangen Schritte, jetzt ganz deutlich. Ein sperriges Trümmerstück wurde beiseite geschoben.
Anais nutzte das Geräusch, um sich von der Wand abzustoßen und auf den Bauch zu rollen. Der Schmerz fühlte sich an, als bohrte jemand ein Brecheisen durch ihre Wirbelsäule. Es gelang ihr, genau unters Fenster zu robben, wo die Schatten am tiefsten waren. Sie sah keinen Lichtschein draußen auf dem Gang, offenbar benutzte der Eindringling keine Taschenlampe.
Die Scheibe musste von der Hitze im Inneren des Hauses nach außen explodiert sein, trotzdem lagen auch hier noch Scherben. Sie spürte sie unter sich und wagte nicht die winzigste Regung.
Wer immer dort draußen war, er lief von Zimmer zu Zimmer. Hielt inne, blickte hinein und ging weiter. Wäre jemand gekommen, um ihr zu helfen, dann hätte er ihren Namen gerufen. Doch da war kein Laut.
Noch einmal schloss sie die Augen, der uralte Instinkt des Nichtsehens und Nichtgesehenwerdens. Sie war gefangen in einem Schmerz, der es ihr nicht mal erlauben würde, sich zu wehren. Was auch immer der Fremde mit ihr vorhatte, sie war ihm ausgeliefert. Allerdings würde sie auch keine große Hilfe dabei sein, ins Institut einzudringen und die Papiere zu stehlen. Er konnte sie bedrohen, aber nutzen würde ihm das nichts.
Die Schritte hielten vor der Tür ihres Zimmers inne.
Das dachte sie tatsächlich: Mein Zimmer . Als wäre sie nie fortgegangen aus Klammroth.
»Anais«, flüsterte eine Stimme.
Es war nicht Sebastian. Auch nicht Erik. Sie war sicher, dass sie diese Stimme nie zuvor gehört hatte. Sie war rau und heiser, als könne sie nicht reden, nur raunen.
Kälte schoss aus ihrem Magen empor wie eine Springflut aus Eiswasser, ein Schwall so reiner, ungezügelter Angst, dass jedes andere Gefühl davon abgetötet wurde. Einen Augenblick lang ließ sogar das Stechen in ihrem Rücken nach, als wäre ein Messer herausgezogen worden, das tief zwischen ihren Wirbeln gesteckt hatte. Es gelang ihr, sich herumzudrehen und am Fensterrand auf die Beine zu ziehen. Regen schlug ihr ins Gesicht, als sie versuchte, sich über die Kante ins Freie zu stemmen. Sie würde springen, eher stürzen, und vielleicht würde sie sich das Genick brechen oder endgültig das Rückgrat, aber sie musste fort von hier, weg von dieser Stimme und der Art und Weise, wie sie ihren Namen wisperte: so lockend, als bliebe ihr keine Wahl, als aufzugeben, und zugleich so klinisch kalt wie das Schlösserschnappen an den Leichenfächern eines Pathologiekellers.
»Anais!«
Aus irgendeinem Grund musste sie an ihren Vater denken, an seine nächtlichen Ängste, wenn er sich durch die Dunkelheit zur Telefonzelle schleppte, um sie zu warnen. Denn nun ahnte sie, dass seine Anrufe genau das gewesen waren: Warnungen, niemals nach Klammroth zurückzukehren.
»Anais …«
Und gerade als
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