Klammroth: Roman (German Edition)
Mist, Sie haben’s gesehen.«
Serpentinas Haut schaute halb unter einer Supermarkttüte voller Gemüse hervor.
»Sie kochen gern?«
»Meine Frau.«
»Die Sie in Wacken kennengelernt haben? 2006?«
Er zuckte mit jungenhaftem Grinsen die Achseln. »Sie hätten zur Polizei gehen sollen.«
Der Wagen folgte einer kurvigen Waldstraße. Einmal kamen sie an einer aufgegebenen Gaststätte mit vernagelten Fenstern vorbei.
Nach einer Viertelstunde Fahrt endete die Baumreihe zu ihrer Linken. Die Straße führte am Rand eines kleinen Sees entlang. Dahinter erhob sich auf einem Hügel ein monumentales Anwesen aus mehreren Flügeln, einem halben Dutzend Giebeln und turmhohen Schornsteinen. Eine Freitreppe führte von einem Arkadengang im Erdgeschoss hinab zum Seeufer.
»Sie wissen, wo wir sind?«, fragte Herzog, als er den Wagen von der Straße auf einen gepflasterten Weg lenkte, der nah am Ufer um den See herum führte.
»Das dürfte dann wohl das Stille Haus sein.«
»Sie waren schon hier?«
»Nein. Ich war auch noch nie im Lebkuchenhaus, aber ich hätte es erkannt, wenn sie mich hingebracht hätten.«
»Ich beziehe das besser nicht auf Ihre Stiefmutter.«
»Sie steckte im Backofen? Noch mehr Informationen, die Sie für sich behalten haben?«
Da lachte er herzlich und sagte nichts mehr, bis sie näher am Haus waren.
Auch wenn sie sich um Kopf und Kragen redete: Es hätte keinen Sinn gehabt, ihm die trauernde Stieftochter vorzuspielen. Er war bereits viel zu gut informiert über sie, wahrscheinlich hatte er sogar ihren Roman nach Hinweisen durchforstet. Er schien ein gründlicher Mann zu sein. Wahrscheinlich hatte er deshalb keine Zeit, sich die Haare zu bürsten.
Beim Näherkommen erkannte sie den desolaten Zustand des Hauses. Noch sah sie nur die zum See gelegene Rückseite, aber das genügte. Alle Scheiben waren zerstört, die meisten Fensterkreuze verschwunden. Im Dach klafften Löcher, durch die es seit Jahr und Tag hineinregnen musste, und im Mittelteil war ein Stück der Fassade um einen Meter nach unten abgesackt; der Anblick wirkte wie eine Fotografie, die unter Hitzeeinwirkung Wellen geschlagen hatte. Es gab keine Anzeichen moderner Technik, nicht einmal eine alte Fernsehantenne war auf den Dächern zu sehen.
Das Stille Haus erstreckte sich verschachtelt am Seeufer entlang und beherrschte die umliegenden Wälder wie ein monströser Sakralbau. Efeu und wilder Wein bedeckten große Teile des Mauerwerks. Auf der Terrasse wuchsen mannshohe Büsche, die im Lauf der Jahrzehnte die Steinfliesen durchbrochen haben mussten. Hunderte Tauben saßen auf den Dachfirsten und beobachteten den Wagen, der über den Weg heranholperte.
Schlaglöcher und armdicke Wurzelstränge, die wie Leitungen einer versteinerten Pipeline vom Waldrand bis zum Ufer reichten, brachten die Federung des Fords an ihre Grenzen. Auf dem letzten Stück wäre eine Unterhaltung unmöglich gewesen, so sehr schepperte es bei jeder neuenErschütterung. Schließlich umrundete Herzog den äußeren Anbau und bog nach links auf einen Vorplatz. Die Giebel des Stillen Hauses schienen sich vorzubeugen wie eine Reihe vermummter Kuttenträger.
»Beinahe hätte das alles Ihnen gehört«, sagte er, als er den Motor nahe des Haupteingangs abstellte. »Sagen Sie bloß, daran haben Sie noch nicht gedacht?«
»Ich war zu beschäftigt mit dem Gedanken, dass ein Teil des Instituts jetzt meinem Vater gehört und ich diejenige bin, die das ausbaden darf.«
»Da dürfte einiges an Papierkram auf sie zukommen.«
Er schlug seine Kapuze hoch und stieg aus. Anais aber blieb sitzen und betrachtete durch die regennasse Windschutzscheibe die Fassade. Sie mochte hundert Meter breit sein, größer als jedes private Anwesen, das sie je gesehen hatte. Ganz am Ende lag ein Teil der Vorderfront in Trümmern, als hätte dort ein Feuer gewütet und die oberen Etagen einstürzen lassen.
Herzog schien ihr Zögern misszuverstehen, eilte um den Wagen und hielt ihr die Tür auf. »Begleiten Sie mich?«
Sie brachte ein knappes »Danke« über die Lippen und trat mit ihrem halb vollen Kaffeebecher neben ihn in den Regen, nicht sicher, was sie hier zu suchen hatte. Wäre es noch zu der Überschreibung des Anwesens an Theodora und Sternberg gekommen, dann hätte sie tatsächlich dieses Gemäuer am Hals gehabt.
Ihre Beunruhigung beim Anblick des Stillen Hauses war womöglich ein Nachhall dessen, was ihr im Tunnel widerfahren war. Oder was sie sich dort eingebildet hatte – so genau
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