Klammroth: Roman (German Edition)
von deren Decken Tapetenbahnen hingen wie abgestorbene Riesenfarne. Überall stank es nach Verfall und Schmutz. In manchen Ecken lagen verrostete Bierdosen und anderer Müll, in einem Raum sogar das Metallgerippe eines alten Kinderwagens. Herzog blieb davor stehen, als wollte er ihr eine Geschichte dazu erzählen, wandte sich dann jedoch ab und setzte den Rundgang fort.
Die ganze Zeit über spürte Anais das Ziehen und Drängen, ohne dabei sagen zu können, ob es sie in eine bestimmte Richtung führen wollte. In einem der hinteren Räume, vor einer Fensterfront aus geborstenen Scheiben, durch die sie das Unkraut auf der Terrasse und den See sehen konnte, blieb sie stehen.
»Was wollen Sie von mir?«, fragte sie. »Und warum sind wir hier?«
Herzog hielt inne, erst mit dem Rücken zu ihr, dann drehte er sich langsam um. Sein Ausdruck war ernst, doch in seinen Augen war ein Rest jenes Lächelns, das sie vorhin noch für ihn eingenommen hatte. »Ich glaube, dass Ihre Stiefmutter wegen dieses Hauses sterben musste. Es steht für die eine große Veränderung in ihrem Leben, kurz bevor sie in den Flammen umgekommen ist. Vorher ging alles jahrelang seinen üblichen Gang, doch dann hat sie sich in den Kopf gesetzt, dieses Gemäuer zu übernehmen, und geplant, mit dem Institut hierher umzuziehen. Und kaum steht ihr Entschluss fest, stirbt sie.«
»Sie wurde deswegen ermordet?« Fahrig wies sie mit einer Handbewegung auf einen Schutthaufen in der Ecke des Raumes, der beispielhaft war für den Zustand des ganzen Hauses. »Wegen dieser Bruchbude?«
»Vielleicht war es kein Mord«, sagte er.
»Dann gibt es erst recht keinen Grund für mich, hier zu sein, nicht wahr?«
»Möglicherweise war es tatsächlich ein Unfall. Sie brauchte eine Menge Geld, um das alles hier wieder herzurichten. Millionen und Abermillionen. Ihre Stiefmutter war eine reiche Frau, und sie hatte potente Geldgeber an der Hand. Aber ob es hierfür ausgereicht hätte?«
»Sternberg sagte, von Stille wollte den beiden das Anwesen schenken.«
»Nicht beiden«, sagte Herzog, »nur ihr. Hat er das nicht erwähnt?«
»Nur Theodora?« Sie war sicher, dass Sternberg sich selbst eingeschlossen hatte. Oder hatte sie das nur in seine Worte hineininterpretiert?
»Das ist es, was er mir am Tag nach ihrem Tod erzählt hat«, sagte Herzog. »Wissen Sie, was eigenartig ist? Wenn man sich in Klammroth umhört, bekommt man den Eindruck, Ihre Stiefmutter sei eine Heilige gewesen, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, den Opfern der Buskatastrophe das Leben zu erleichtern. Sie waren eines dieser Opfer – und trotzdem mochten Sie sie nicht. Sie sind fast die Einzige, die gegen den Strom schwimmt.«
»Ich habe ihr trotzdem nie den Tod gewünscht.«
»Alles, um das ich Sie bitte, ist eine Einschätzung: Trauen Sie ihr zu, dass sie ihr Elternhaus abbrennen wollte, um die Versicherungssumme zu kassieren?«
»Nein.«
»Das klingt sehr überzeugt.«
»Theodora hätte sich nie an so was die Finger schmutzig gemacht. Selbst wenn sie das Geld so dringend gebraucht hätte, hätte sie niemals eigenhändig ein Feuer gelegt. Und abgesehen davon: Über wie viel sprechen wir denn eigentlich? Hunderttausend, allerhöchstens. Das Haus stand seit Jahren leer, und das Einzige, was bei einem Verkauf ein wenig Geld eingebracht hätte, ist das Grundstück. Die Versicherung hat mich schon darauf vorbereitet, dass die Summe nicht hoch sein wird – falls sich bestätigt, dass das Feuer nicht absichtlich gelegt wurde. Jedenfalls ist es ein lächerlicher Betrag im Vergleich zu dem, was diese Ruine hier verschlingen würde.«
»So sehe ich das auch.« Er steckte die Hände in die vollen Taschen seiner Jacke. »Und wie steht es mit Selbstmord? Halten Sie das für möglich?«
Sie ließ sich Zeit, weil sie darüber nachdenken musste. Nur hatte sie Mühe, sich zu konzentrieren, solange sie noch immer den seltsamen Zwang verspürte, weiter durch das Stille Haus zu streifen.
»Ich glaube«, sagte sie schließlich, »dass sie nicht der Typ war, der sich einfach so umbringt. Zumindest früher machte sie nicht den Eindruck, als würde sie je vor irgendwem kapitulieren. Genau genommen war sie ein hartes, herzloses Miststück.«
»Auch Miststücke haben mal die Nase voll von allem.«
Anais verzog einen Mundwinkel. »Stünde ich mit einem Eimer Farbe und einer Tapetenrolle vor diesem Trümmerhaufen, ginge mir das genauso.«
»Ein Suizid erscheint mir auch nicht allzu plausibel. Zumal sie
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