Klammroth: Roman (German Edition)
Menschen aufbringen, sonst hätte ich meinen Job verfehlt.«
»Dann halten Sie ihn für krank?«
»Es fällt mir schwer, in seinem Kreuzzug gegen das Institut etwas anderes zu sehen als das Resultat einer posttraumatischen Störung in Verbindung mit unbewältigter Trauer. Nach außen hin sucht er die Schuld für das, was geschehen ist, bei anderen. Dabei gibt er sie im Grunde sich selbst.«
Sie verabscheute seinen überheblichen Tonfall, doch womöglich hatte er Recht. Nele hatte nur wegen Sebastian mit im Bus gesessen. Dass ihr Bruder sich zumindest einen Teil der Schuld geben mochte, schien nicht weit hergeholt.
»Sind Sie deshalb hier?«, fragte Sternberg. »Wegen Sebastian Teusners Anschuldigungen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich würde gern das Büro und die Wohnung meiner Stiefmutter sehen.«
Der Arzt maß sie mit einem durchdringenden Blick, entgegnete aber nichts.
»Meine Eltern waren zwar getrennt«, sagte sie, »aber ich kann nicht ausschließen, dass mein Vater noch immer an Theodora hängt. Auf … seine Art. Sie wissen ja, in welchem Zustand er ist. Seine Pfleger meinen, Erinnerungsstücke könnten manchmal etwas bei ihm auslösen. Eine Reaktion.« Sie versuchte es mit einem nervösen Lächeln, in der Hoffnung, dass er sie in ihrer Unbedarftheit für harmlos halten würde. »Wie auch immer so eine Reaktion aussehen soll. Aber wenn es ihm hilft.«
»Sie möchten ihm etwas von ihr mitnehmen?«, fragte Sternberg.
»Sehen Sie da ein Problem?«
Natürlich tat er das – sie merkte es ihm an, als er seine Brille abnahm und sie nachdenklich mit dem Saum seines weißen Kittels reinigte. »Alle privaten Gegenstände werden ohnehin bald Ihrem Vater gehören. Und damit in gewisser Weise Ihnen, nicht wahr? Gibt es denn etwas, das Sie für besonders erinnerungswürdig halten? Kunstwerke, vielleicht? Da dürfte es ein paar Sachen von Wert geben. Oder etwas Technisches? Sie hatte sich erst kürzlich einen neuen Mac gekauft.«
»Was genau wollen Sie damit sagen, Professor Sternberg?«
Sie wussten es beide, aber er hob abwehrend eine Hand. »Ich meine das nur ganz allgemein. Verzeihen Sie, wenn ich mich unklar ausgedrückt habe.«
Sie brauchte ihn noch, um ihre Fragen zu beantworten.Nur deshalb verzichtete sie auf die scharfe Erwiderung, die er verdient hatte. Stattdessen sagte sie: »Vermutlich genügt eine Kleinigkeit. Irgendein Ding, von dem er weiß, dass sie es mochte.«
»Ich begleite Sie gern in Theodoras Büro.« Sternberg öffnete eine Schreibtischschublade und nahm ein Schlüsselbund heraus. »Nur was die Wohnung angeht, kann ich Ihnen nicht weiterhelfen. Die Polizei hat sie versiegelt. Sie können sich gern davon überzeugen.«
»Wahrscheinlich finde ich irgendwas in ihrem Büro, das vollkommen ausreicht.« Sie wollte schon aufstehen, überlegte es sich dann aber anders. »Ich habe mich vorhin mit Herrn von Stille unterhalten, draußen im Regen. Er hat etwas erwähnt, über Theodoras Arbeitszimmer.«
Sein Lächeln wurde gönnerhaft. »Sie meinen das Regal mit Ihren Büchern?«
Hatte er das wirklich erraten? Oder hatte er sie und den alten Mann vom Fenster aus belauscht? »Dann hat von Stille das also nicht aus Höflichkeit erfunden.«
»Sie mag das überraschen, Frau Schwarz, aber Theodora hat jedes Ihrer Bücher gelesen. Ich weiß, dass sie und von Stille sich oft darüber unterhalten haben. Er war einer der Patienten, denen sie sehr viel Zeit gewidmet hat, die beiden haben lange Gespräche geführt.« An die Stelle seines Lächelns trat einstudierte Ernsthaftigkeit. »Ich habe nie so recht verstanden, warum Theodora sich nicht eine Wohnung im Ort genommen hat. Ich selbst sitze jeden Tag fast zwei Stunden im Auto, um Beruf und Arbeit strikt voneinander zu trennen. Aber Ihre Stiefmutter hat auch an den Abenden Zeit mit einigen der Patienten verbracht. Von Stille und sie haben sich blendend verstanden.«
»Er muss ihr sehr dankbar gewesen sein.«
»Sie meinen, ob er in Ihre Stiefmutter verliebt war?« Sternberg stieß ein kurzes, aber kraftloses Lachen aus. »Nein, ich denke nicht. Nur war sie in all den Jahren seine einzige Bezugsperson. Ich habe ihn lediglich in Ausnahmefällen behandelt, er bestand stets darauf, dass Theodora sich um ihn kümmerte.«
»Was ist mit ihm passiert? Damals, meine ich.« Ihr war klar, dass er sich auf seine Schweigepflicht berufen konnte. Aber sie wollte es wenigstens versucht haben. »Sie sagten, seine Verbrennungen stammten noch aus dem Krieg. War er
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