Klammroth: Roman (German Edition)
und verschwand im Regen.
Einen Moment lang blickte sie seinen Rücklichtern nach und fragte sich, ob sie das Richtige getan hatte. Wäre es besser gewesen, ihm alles zu erzählen? Und musste Herzog nicht in Betracht ziehen, dass auch sie einen Verbündeten gehabt haben könnte? Jemanden, der Theodora in Anais’ Auftrag oder in Absprache mit ihr ermordet hatte? Je länger sie darüber nachdachte, desto richtiger erschien es ihr, dass sie Erik nicht erwähnt hatte.
Sie lief hinauf ins Zimmer und stellte fest, dass Lily nicht da war. Sie hatten keinen Zeitpunkt vereinbart, um miteinander essen zu gehen, und es hätte sie nicht überraschen sollen, dass einer Vierzehnjährigen in der Pension die Decke auf den Kopf fiel. Mit schlechtem Gewissen schrieb sie ihr auf einen Zettel, dass sie am späten Nachmittag zurück sein würde, ging hinunter zum Mietwagen und machte sich auf den Weg zum Avila-Institut. Eines zumindest hatte Sebastian erreicht: Er hatte sie neugierig gemacht.
Als sie den Weinberg hinauffuhr und durch die Regenschlieren den bedrückenden Umriss des Teusnerhotels sah, zitterten ihre Hände. Sie packte das Lenkrad fester und entspannte sich erst, als das Haus hinter ihr zurückblieb.
Kurz vor dem Bergkamm führte die Straße in den Wald. Unwillkürlich dachte sie an die vergangene Nacht und war froh, dass der Tunnel in der entgegengesetzten Richtung lag und sie sich mit jedem Kilometer weiter davon entfernte.
Obwohl es erst kurz nach eins war, herrschte draußen Dämmerlicht. Aschgraue Regenwolken schwebten tief über den Wipfeln, immer wieder hing fahler Dunst zwischen den Bäumen. Anais’ Erschöpfung meldete sich zurück. Am liebsten hätte sie den Wagen auf einem der Forstwege abgestellt, um ein wenig Schlaf nachzuholen. Dann dachte sie wieder an die Verfolger im Wald und verdrängte ihre Müdigkeit.
Während sie noch die ehemaligen Obstplantagen durchquerte, sah sie, dass alle Fenster des Instituts erleuchtet waren, so, als wäre der Abend auch hier bereits Stunden zu früh angebrochen.
Wieder parkte sie unmittelbar am Eingang, zog sich den Kragen ihrer Jacke über den Kopf und sprang hinaus ins Unwetter. Sie wollte gerade die Stufen zum Haupteingang hinauflaufen, als sie aus dem Augenwinkel jemanden bemerkte. Eine Gestalt saß im strömenden Regen auf einer der Parkbänke nahe beim Gebäude und blickte reglos zu den gegenüberliegenden Bäumen. Es war die Bank unter Sternbergs Fenster.
Der Regen sprühte Anais ins Gesicht, als sie dem asphaltierten Weg am Fuß der Ziegelfassade folgte. Die Lampen auf den gusseisernen Pfosten brannten bereits. Außer dem einsamen Umriss auf der Bank war nirgends ein Mensch zu sehen.
»Entschuldigen Sie.« Sie sprach ihn an, bevor sie ihn erreicht hatte. Noch lagen mehrere Meter zwischen ihnen, aber sie war jetzt sicher, dass es sich um einen Mann handelte. Er war hochgewachsen, wahrscheinlich größer als sie, und trug einen langen Regenmantel aus durchsichtigem Plastik. Die Kapuze war hochgeschlagen.
»Verzeihen Sie bitte.« Jetzt war sie nur noch drei Schritt entfernt.
Er blickte stur über den Weg zur düsteren Wand der Nadelbäume, als erwartete er, dass jeden Moment etwas zwischen den Stämmen hervorbräche. Die Regentropfen wurden von der Lampe neben der Bank erleuchtet und flitterten golden vor dem allgegenwärtigen Grau.
»Nicht gerade das beste Wetter, um draußen zu sitzen«, sagte sie und verstellte ihm mit einem kühnen Schritt die Sicht. »Entschuldigen Sie, ich hab nur eine kurze Frage.«
Sie sah von oben auf den Rand der Kapuze und hörte den Regen darauf trommeln. Trotz des transparenten Materials ließ sich der Schädel darunter kaum erkennen. Wasser troff vor seinem Gesicht hinab wie ein Perlenvorhang.
»Die Schwestern verstehen nicht, warum ich im Regen nach draußen gehe«, sagte er mit einer Stimme, die älter klang als der Fluss auf der anderen Seite der Berge. »Aber es kommt der Tag, an dem ich keinen Regen mehr spüren werde. Und keinen Wind. Und keine Kälte. Ich bin zu alt, um Zeit zu verschwenden.«
Schon von Weitem war sie sicher gewesen, dass er es war. Als er den Kopf ein wenig hob, sah sie wache, fast junge Augen in einem uralten Gesicht. Seine Züge waren von Furchen zerklüftet, und sie fragte sich, was davon Falten und was Narben waren.
»Herr von Stille?«
»Sie sind ihre Tochter«, stellte er fest. »Theodoras Tochter.«
»Stieftochter. Sie war die zweite Frau meines Vaters.«
Seine Augen glitzerten wie die
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