Klammroth: Roman (German Edition)
Wasserfäden, die vom Rand seiner Kapuze liefen. »Das war unbedacht von mir.«
»Wie haben Sie mich erkannt?«
»Ich habe Ihr Bild auf den Büchern gesehen, oben im Arbeitszimmer Ihrer Stiefmutter. Sie hat sie alle gelesen. Mehr als einmal, hat sie gesagt.«
Sie bemühte sich um ein Lächeln, weil die Vorstellung zu absurd war. »Das kann ich mir kaum vorstellen.« Er wollte höflich sein, das war in Ordnung. Theodora hatte nie auch nur mit einem Wort ein Interesse an Anais’ Romanen bekundet.
»Sie hat mir die Handlung von jedem einzelnen erzählt, sogar daraus zitiert«, sagte von Stille. »Und ich habe sie nicht darum gebeten, jedenfalls nicht in dieser Ausführlichkeit. Aber ich habe ihr angemerkt, dass sie darüber reden wollte. Also redeten wir. Wir haben viel Zeit miteinander verbracht.« Sein Adamsapfel zuckte an seinem schrundigen Schildkrötenhals. »Ich selbst lese nicht mehr so häufig. Das bisschen Wirklichkeit um mich herum wird mit jedem Tag wichtiger. Da bleibt nicht viel für die Träume anderer.«
Er schien den Regen nicht wahrzunehmen, aber sie stand noch immer leicht vorgebeugt und hatte sich den Jackenkragen wie ein Zelt über das Haar gezogen. Sie fröstelte vor Nässe.
»Ich hatte gehofft, Sie würden mir eine Frage beantworten.« Sie musste gegen das Regengetöse anbrüllen, obwohl von Stille ganz ruhig sprach und sie ihn dennoch verstand.
Diesmal nickte er nur. Seine Lippen sahen aus wie Narbenwülste, das bemerkte sie erst jetzt. Unwillkürlich dachte sie an die Begegnung in ihrem ausgebrannten Kinderzimmer.
»Ich war vor zwei Tagen schon einmal hier«, sagte sie, »zusammen mit meiner Tochter. Sie ist vierzehn. Sie sind ihr begegnet, glaube ich. Sie hat neben Ihnen auf der Bank gesessen.«
»Ich sitze oft auf dieser Bank, und immer allein. An ein junges Mädchen würde ich mich erinnern.«
»Lange blonde Haare? Und eine Wollmütze? Sehr hübsch.«
»Wie ihre Mutter.«
»Sie haben sie wirklich nicht gesehen?«
»Leider nicht.«
Er klang aufrichtig. Hätte sie ihre Tochter nicht mit eigenen Augen neben ihm gesehen, sie hätte ihm geglaubt. »Hat Lily Sie gebeten, das zu sagen?«
Eine Weile lang blickte er sie schweigend unter dem Rand seiner Kapuze hervor an. »Ich fürchte«, sagte er dann, »ich kann Ihnen nicht folgen.«
»Ich hab Sie beide zusammen gesehen, hier auf dieser Bank. Aber Lily behauptet, sie wäre allein gewesen – und nun sagen Sie von sich genau dasselbe.«
»Vielleicht saß sie eine Bank weiter. Vom Büro des Professors aus haben Sie gewiss mehrere Bänke im Blick.«
Sie hatte Sternberg nicht erwähnt. Weder ihn noch sein Büro oder sein Fenster. Die unerschütterliche Gewissheit des alten Mannes verunsicherte sie.
»Möglicherweise habe ich mich getäuscht«, sagte sie und dachte genau das Gegenteil.
»Es gibt hier viele Patienten. Ihre Tochter hat sicher mit einem der anderen Herren gesprochen.«
Er war alt genug, um senil zu sein. Oder nur vergesslich. Mit neunundneunzig hatte er jedes Recht dazu. Er musste nicht lügen. »Holen Sie sich hier draußen nicht den Tod.«
Seine Lippen spannten sich. »Ich gebe mir alle Mühe.«
»Auf Wiedersehen, Herr von Stille.«
»Auf Wiedersehen, Frau Schwarz. Ihre Stiefmutter war eine große Frau. Ich möchte Ihnen mein Beileid aussprechen für Ihren Verlust.«
Sie nickte nur und ging.
Erst vom Haupteingang aus sah sie noch einmal zurück und rechnete fest damit, dass er verschwunden sein würde wie eine Erscheinung. Doch natürlich saß er noch da, wieder zur Statue erstarrt, und blickte hinüber zu den dunklen Bäumen.
Sie fragte sich, ob sein Ledermund unter der Kapuze noch immer lächelte.
24
»Lassen Sie es mich so ausdrücken«, sagte Sternberg. »Vielen Kleinstädtern ist alles Neue suspekt. Und das gilt ganz besonders für die Behandlungsmethoden der modernen Medizin.«
»Ich habe mit Sebastian Teusner gesprochen«, sagte Anais.
Sternberg nickte bedächtig. »Herr Teusner hat des Öfteren Kritik geäußert. Ich vermute, Sie haben dieselben Anschuldigungen zu hören bekommen, die er seit Jahr und Tag verbreitet? Er hat das Schicksal seiner Schwester nicht verkraftet. Und wer kann ihm das verübeln?«
Sie saßen sich in Sternbergs Büro gegenüber. Regen schlug in harten Böen gegen die Scheiben. »Ich hatte angenommen«, sagte Anais, »dass Sie ihm die Pest an den Hals wünschen.«
»Ich bin Arzt.« Seine Höflichkeit wirkte eine Spur zu maskenhaft. »Ich sollte wohl Verständnis für kranke
Weitere Kostenlose Bücher