Klammroth: Roman (German Edition)
pumpte wie irre, während sie verzweifelt überlegte, was sie jetzt tun sollte. Um Hilfe rufen? Er konnte sie blitzschnell zum Schweigen bringen.
»Mit Sebastian?«, wiederholte er.
»Hör schon auf!« Sie setzte die Handflächen auf, um sich hochzustemmen. »Ihr habt mich gestern bis zum Tunnel verfolgt und –«
»Stimmt«, sagte er, »ich hab euch verfolgt. Dich und ihn.«
In ihrem Kopf drehte sich alles. Sie war nicht mehr sicher, was sie denken sollte. Falls er ihr mit der Lampe – oder mit bloßer Faust – den Schädel einschlagen wollte, hätte er das bereits tun können.
Stattdessen bot er ihr erneut die Hand an.
»Ich hab euch gesehen«, sagte er, »als ihr auf dem Friedhof wart. Ich bin einmal am Tag da oben, am Grab meines Vaters.«
»Nachts?« Sie versuchte, Zeit zu gewinnen, ohne so recht zu wissen, wofür.
»Spätabends. Nach meiner Schicht im Heim. Und ihr wart schließlich auch da.«
»Und da dachtest du, du schleichst uns nach?« Sie wollte ihm kein Wort glauben, auch wenn ihr allmählich dämmerte, dass irgendetwas ganz anders war, als sie erwartet hatte.
»Nun nimm schon die verdammte Hand«, sagte er und schüttelte sie, damit Anais sie ergriff.
Ohne weiter nachzudenken ließ sie sich von ihm aufhelfen. Der Schmerz traf sie noch einmal mit aller Macht, aber als sie aufrecht stand, ebbte er ein wenig ab.
»Ich kenne doch Sebastian«, sagte er. »War klar, dass der irgendwas vorhatte.«
Sie versuchte, ihm in die Augen zu blicken, aber sein Blinzeln irritierte sie. Ohne Brille sah er anders aus, noch grobschlächtiger, fast ein wenig zurückgeblieben, auch wenn sie genau wusste, dass er das nicht war. Er war damals ein schlechter Schüler gewesen, aber bestimmt nicht behindert. Und etwas musste ihr Vater in ihm gesehen haben, das ihn später dazu bewegt hatte, sich für ihn einzusetzen.
»Ich hab mitbekommen, wie ihr gestritten habt. Und wie Sebastian auf dich losgegangen ist. Erst da hab ich mir den Stock gegriffen und bin hinterher.« Er neigte den Kopf zur Seite, als könnte er sie auf diese Weise klarer erkennen. »Ich wollte dich vor ihm beschützen.«
»Oh, bitte, Erik …«
»Als du in den Tunnel gelaufen bist, da hab ich euch eingeholt. Ich hab ihn noch vom Eingang weggezogen –«
Sebastians Arm, der durch den Spalt nach ihr tastete.
»– aber dann hast du das Tor von innen zugeknallt –«
Etwas krachte wie ein Rammbock gegen den Stahl.
»– und er ist wie ein Irrer auf mich los. Er ist völligdurchgedreht.« Erik deutete auf eine verkrustete Platzwunde über seinem Ohr. Stammte daher das getrocknete Blut auf seinem Gesicht? »Er ist jähzornig wie nur was. Du kennst ihn nicht mehr. Er hat sich verändert, seit das mit seiner Schwester … mit uns allen passiert ist. Und er redet nie von irgendwas anderem als von Nele und dem Unfall. Er hat deine Stiefmutter gehasst, und er hätte alles getan, damit es ihr an den Kragen geht.«
Sie trat einen Schritt zurück und lehnte sich wieder gegen die Wand. Erik hatte seine Stimme gesenkt, aber in dem kahlen Treppenhaus hallte sie dennoch durch die Etagen.
»Außerdem«, sagte er, »manipuliert er andere. Er hat das schon früher getan, aber da hast du es wahrscheinlich nicht mitbekommen.«
»Wir waren fast noch Kinder. Das ist alles eine Ewigkeit her.«
»Immerhin hast du dich gestern mit ihm getroffen. Ich hab euch zugehört, auf dem Friedhof. Sag mir nicht, du hättest nicht wieder angefangen, ihn zu mögen.«
Aufgebracht starrte sie ihn an. »Das geht dich einen Scheißdreck an, Erik! Ich muss mich doch nicht vor dir rechtfertigen für –«
Mit einer Geste brachte er sie zum Schweigen. »Still.« Er machte einen Schritt zur Seite und blickte vorsichtig über das Geländer nach unten. Sie hätte den Moment ausnutzen und versuchen können, an ihm vorbei zum Ausgang zu springen – wären da nicht die Schmerzen gewesen. Und aus einem Grund, den sie selbst nicht verstand, machte er sie mit allem, was er sagte, nur neugieriger.
»Was ist?«, fragte sie.
»Da war jemand«, flüsterte er. »Glaub ich jedenfalls.«
Sie hatte nichts gehört, aber sie befand sich ja auch gerade in ihrem eigenen kleinen Kosmos aus Wut und Angst und Scham.
Sie schwiegen noch eine Weile, dann wisperte er: »Ohne Brille kann ich da unten eh kaum was sehen.«
Anais trat neben ihn und schaute in die Tiefe. Die Beleuchtung, die der Bewegungsmelder aktiviert hatte, reichte nur ein Stockwerk abwärts, aber der Schacht
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