Klammroth: Roman (German Edition)
wenig erkennen konnte wie im Keller. »Einmal die Woche haben siemeinen Vater und Nele abgeholt und hierhergebracht. Anfangs auch noch ein paar von den anderen Schwerstverletzten, aber die sind alle im Lauf der Zeit gestorben. Die beiden haben am längsten durchgehalten.«
»Okay«, sagte sie leise, »jetzt bist du hier drinnen. Das wolltest du doch.«
Er nickte.
»Ich geh jetzt nach oben und seh mich in der Wohnung meiner Stiefmutter um«, fuhr sie fort. »Das wird vielleicht eine Weile dauern. Kommst du mit?«
Mit einem Kopfschütteln deutete er die Treppe hinunter. »Meinen Vater haben sie immer runter in die Keller gebracht, aber ich durfte ihn nie weiter als bis zum Vorzimmer begleiten. Ich will sehen, was da unten noch ist.« Er klopfte auf seine pralle Hosentasche. »Und ich will Fotos machen, falls ich was finde, das … ich weiß nicht … nicht normal aussieht.«
Was erwartete er denn? Streckbänke und eiserne Jungfrauen? Aber sie widersprach ihm nicht, weil sie froh war, dass er sie nicht in Theodoras Apartment begleiten wollte. Besser, sie erledigte das allein und ohne diesen Koloss, der im Zweifelsfall nur Lärm machen würde.
»Versuchen wir’s«, sagte sie.
Er sah die Treppe hinauf, dann wieder in ihre Augen. »Viel Glück.«
»Dir auch.«
Beinahe hätte sie ihm die Hand geschüttelt, bevor sie sich auf den Weg ins Dachgeschoss machte. Aber nur beinahe.
Hätte sie geahnt, dass sie ihn zum letzten Mal sah, hätte sie es wohl getan.
29
Die Wohnungstür im dritten Stock war mit dem Siegelband der Polizei überklebt. Anais zog die Schlüsselkarte durch den Schlitz und stieß die Tür nach innen. Das Band riss ab, aber das war ihr gleichgültig.
Sie betrat einen dunklen Flur, dessen linke Wand bis zur Decke mit Bücherregalen bedeckt war. Der Korridor war ungewöhnlich lang, sicher fünfzehn Meter. Rechts befanden sich die offenen Türen mehrerer Zimmer. Das allgegenwärtige Wispern der letzten Tage hing in der Luft: Regen trommelte an die hohen Altbaufenster.
Theodora hatte die Angewohnheit gehabt, sämtliche Bände penibel bis an den vorderen Rand der Regalbretter zu ziehen, sodass alle Buchrücken eine Ebene bildeten. Während Anais sich leise den Gang hinab bewegte, hielt sie sich ganz links und streifte die Bücher fast mit der Schulter. Sie wollte einen möglichst großen Abstand zu den Türen halten.
Doch die Räume rechts des Korridors waren verlassen. Küche und Bad, dann ein Schlafzimmer – alle großzügig geschnitten und mit hohen Decken. Vermutlich war dies ein Bürotrakt der alten Fabrik gewesen. Theodora hatte in einem Doppelbett geschlafen, aber nur ein Kissen und eine Decke benutzt. Ein paar Kleidungsstücke waren achtlos über einen Stuhl geworfen worden. Es roch ungelüftet und ein wenig nach kaltem Rauch.
Am Ende des Flurs öffnete sich hinter einem Durchgang ein weitläufiges Loft. An den sechs hohen Fenstern lief der Regen in tintigen Schlieren hinab. Anais wagte nicht, die Strahler unter der Decke einzuschalten. Stattdessen tapptesie hinüber zu einem schweren Eichenschreibtisch und begnügte sich mit dem Schein einer Lampe, die darauf stand. Inmitten des düsteren Saals entstand eine Lichtinsel, die kaum über den Tisch hinausreichte. Die Umgebung wirkte dadurch noch finsterer.
Jemand hatte hier nach etwas gesucht, vermutlich die Polizei, vielleicht auch Sternberg. Papiere lagen über dem Tisch verstreut, außerdem mehrere Bücher. Viele sahen sehr alt aus, die meisten waren in Frakturschrift gesetzt. Zuerst achtete sie kaum auf die Titel, aber nachdem sie in den Schubladen nichts Ungewöhnliches entdeckt hatte, schaute sie genauer hin. Es handelte sich nicht um medizinische Fachliteratur, sondern um anthropologische und religionswissenschaftliche Studien. Untersuchungen über Märchen und Legenden, manche mit lokalem Bezug. Außerdem fand sie einige Sammlungen mit goldgeprägten Titeln. Hundert Mährchen, an Flüssen gesammelt . Ein Büchlein für die gute Kindheit . Sagenschatz der deutschen Völker . Aberglaube und Dämonologie in den rheinischen Herzogthümern . An mehreren Stellen steckten Zettel, auf denen Theodora Notizen gemacht hatte. Peiniger stand in ihrer Handschrift auf dem erstbesten, den Anais inspizierte. Dasselbe Wort fand sie auf dem zweiten, dort mit einem Fragezeichen versehen. Und dann immer wieder Zettel nur mit einem großen P.
Auf einem weiteren Stapel lagen fremdsprachige Bücher. The Culture of Pain . A Calculus of Suffering:
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