Klammroth: Roman (German Edition)
Pain in Nineteenth-century America . La maladie de l’âme . Und, ganz unten, ein Jahresband des Journal of Abnormal Psychology von 1967.
Sie blätterte fast eine halbe Stunde lang in den Bänden, streifte Themen, Kapitel, Markierungen, suchte nach Verbindungen, fand aber keinen brauchbaren Hinweis.
Schließlich trat sie zurück in den Korridor und schaltete das Licht ein. Langsam schritt sie die vorderen Meter der Bücherwand ab und fand zahllose weitere Bände mit Titeln wie Krankheit als Metapher und Handbook of Chronic Pain Management . Vor dem Band Aus Leiden Freuden: Masochismus und Gesellschaft blieb sie kurz stehen, nahm ihn dann aber doch nicht heraus.
Was sie nirgends sah, waren Aktenordner. Die mussten alle unten in der Klinik archiviert sein, eine ganze Reihe hatte sich in Theodoras Büro befunden. Sie überlegte, ob sie sich noch einmal dorthin wagen sollte, vielleicht später, wenn nur noch eine Handvoll Nachtschwestern und Pfleger unterwegs war. Oder sie könnte Erik in den Keller folgen und sich dort nach einem Archiv umsehen.
Aber es widerstrebte ihr, gemeinsam mit ihm durch die Klinik zu streifen. Es war eine Mischung aus tief verwurzelter Abneigung, unüberwindbarem Misstrauen und Schamgefühl. Als Kind hatte sie seine Verfolger auf dem Schulhof angefeuert wie alle anderen. Dass sie sich heute dafür schämte, war nicht überraschend; nur dass sie es gerade jetzt tat.
Noch einmal machte sie sich auf den Weg den langen Flur hinunter zum Wohn- und Arbeitszimmer ihrer Stiefmutter. Ein letzter Blick, um sicherzugehen, dass sie nichts übersehen hatte, dann würde sie verschwinden.
Sie passierte gerade die letzten Bücherregale, als das Licht ausging.
Einen Schritt vor dem Durchgang zum Loft blieb sie stehen. Eine Hitzewelle jagte durch ihren Körper. Sie hielt den Atem an und horchte. Nur das monotone Prasseln des Regens an den Scheiben.
Ihr erster Impuls war, die Wohnung auf der Stelle zu verlassen. Doch falls jemand auf dem Weg hierher war, dann würde er ihr im Treppenhaus entgegenkommen.
Natürlich konnte es ein Zufall sein. Nur eine Sicherung, irgendein Defekt. Aber daran glaubte sie nicht mal eine Sekunde lang.
Sie machte die letzten Schritte in den großen Raum hinein. Auch die Schreibtischlampe war erloschen. Weite Teile des Zimmers waren in Schwärze versunken.
Und wenn schon jemand hier war? Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, überlegte es sich dann aber anders. Selbst das Luftholen fiel ihr jetzt schwer, ihr Atmen klang rasselnd und viel zu laut.
Irgendetwas musste es hier geben, mit dem sie sich verteidigen konnte. War da ein Brieföffner auf dem Schreibtisch gewesen? Natürlich nicht, kein Mensch benutzte mehr Brieföffner.
In der Küche würde es Messer geben. Aber das war der Raum, der am weitesten entfernt lag, unmittelbar vor der Wohnungstür.
Sie holte tief Luft und rannte los. Der Schmerz zwischen ihren Wirbeln traf sie wie eine Klinge ins Kreuz. Vor ihr lagen fünfzehn Meter Korridor. Vorbei an der ersten Tür zum Schlafzimmer, dann an der zweiten zum Bad. Ihr Rücken schien in Flammen zu stehen, der Schmerz loderte hinab bis zum Steißbein.
Sie hörte zu viele Schritte. Nicht nur ihre eigenen.
Die Laute kamen aus dem Treppenhaus. Jemand blieb draußen vor der Tür stehen.
Noch zwei Meter bis zur Küche. Sie konnte es schaffen.
Auf der anderen Seite der Wohnungstür klimperte ein Schlüsselbund.
Blitzschnell glitt sie in die Küche.
Der Schlüssel drehte sich im Schloss.
Ihr Herz klopfte lautstark in den Ohren. Alles in ihr schien zu vibrieren. Auch hier war es dunkel, sie erkannte so gut wie nichts. Da waren Ablagen, darunter Schubladen.
Im Flur wurde die Tür geöffnet. Jemand betrat das Apartment.
Sie riss das erstbeste Fach auf. Tastete blind hinein und spürte Metall unter ihren Fingern.
Keine Messer. Nur eine Reibe.
Die Wohnungstür fiel wieder zu. Wer auch immer hereingekommen war, musste gehört haben, wo sie sich befand.
Eine zweite Schublade. Gabeln, Löffel, dann etwas Größeres. Ein Brotmesser mit gezackter Klinge und einem Griff aus Stahl.
Anais packte es und wirbelte herum.
Sie war nicht mehr allein in der Küche.
»Bleiben Sie –«
Aber er stand bereits vor ihr.
30
Erik folgte dem umherzuckenden Schein der Stablampe durch Korridore mit grauem Linoleumboden und hohen Gewölbedecken. Er wagte es nicht, die Deckenleuchten einzuschalten. Falls man ihn hier entdeckte, würde er nicht nur eine Anzeige am Hals haben, sondern auch
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