Klammroth: Roman (German Edition)
seinen Job im Heim verlieren.
Er war überrascht, wie verwinkelt die Gänge der unteren Kelleretage waren. Ein Stockwerk darüber, ebenfalls unterirdisch, befanden sich die Reha-Räume der Klinik, das wusste er von der Beschilderung im Aufzug. Hier unten aber schien es vor allem Lagerräume zu geben, für Medikamente, Verbandsmittel und all die anderen Utensilien, die auf den Stationen benötigt wurden.
Wenn er früher seinen Vater hierher begleitet hatte, hatte er den unteren Keller von der anderen Seite aus betreten, vom Lift her, der aus dem Klinikfoyer herabführte. Dort war er in einem Warteraum platziert worden, während sein Vater auf einer Spezialliege hinter einem Sicherheitsschott verschwunden war. Anais’ Stiefmutter und dieser Sternberg hatten ihm die Gründe erklärt: In den Behandlungszimmern wurde ein künstliches Klima hergestellt, je nach den Bedürfnissen der Patienten, oft mit hohen Temperaturen und kontrollierter Luftfeuchtigkeit. Noch wichtiger war Sterilität; bis zuletzt war sein Vater regelmäßig in Desinfektionslösungen gebadet worden.
Oben auf den Stationen hörte man aus vielen Zimmern das Stöhnen und Schreien der Schmerzpatienten. Hier unten aber war nur ein leises Wummern zu hören, vielleicht die Heizungsanlage oder die Belüftungen.
Erik bog um eine Ecke auf einen breiten Korridor. Ein Geräusch erklang wie das Rascheln von Staniolpapier. Er ließ den Lichtkegel umherwandern, zuletzt auch zur Decke hinauf. Dort verliefen Rohre, die mit einer silbernen Folie ummantelt waren. Ein Luftzug musste einen losen Fetzen gestreift haben.
Vorsichtig ging er weiter, vorbei an geschlossenen Türen. Anfangs hatte er in jeden Raum geblickt, aber mittlerweile konzentrierte er sich darauf, den Bereich mit den Behandlungszimmern zu suchen. Das alles hier war weit davon entfernt, steril zu sein; hierher wurden mit Sicherheit keine Patienten gebracht.
Die Tür am Ende des Korridors war aus Metall und unverschlossen. Behutsam öffnete er sie und betrat einen Quergang. Auch hier war es dunkel, der Schein seiner Stablampe strich über weiße Wände. Rechts von ihm, ganz am Ende des Gangs, stand eine Tür weit offen. Durch sie fiel rötliches Licht wie aus einer Dunkelkammer.
Seine Hände waren feucht, als er weiterging. Die Stablampe schien jetzt mehr zu wiegen als noch vor wenigen Minuten.
Abermals das Rascheln und Knistern.
Er wirbelte herum und sah verschwommen, dass die Tür, durch die er gekommen war, noch immer offen stand. Hatte er sie nicht gerade hinter sich geschlossen? Oder war es die davor gewesen? Der rote Lichtschein hatte ihn abgelenkt, er war nicht mehr sicher.
Niemand befand sich hinter ihm. Der Gang war verlassen. Nun herrschte auch wieder Stille, abgesehen vom fernen Brummen der Lüftungen.
Viele Menschen glaubten, dass sich ein Mann wie er, muskulös von den Schultern bis zu den Waden, vor kaumetwas fürchten musste. Tatsächlich aber wurde Eriks Leben von seinen Ängsten bestimmt. Von den Ängsten und vom Schmerz, besonders in den Nächten. Dann begann es mit einem Kribbeln und Kitzeln, ehe sich seine Nerven entflammten und die verbrannten Stellen abermals zu lodern schienen, lichterloh wie im Tunnel.
Auf offener Straße fühlte er sich von anderen Menschen beobachtet, als gäben sie einander geheime Zeichen, die er nicht verstand. Seine Vernunft sagte ihm, dass er für die meisten nicht interessanter war als ein Laternenpfahl, doch gegen seine Gefühle kam er nicht an. Oft blieb er stehen und schaute sich um, ohne jemanden zu entdecken, der ihm mehr als flüchtige Blicke zuwarf. Er hatte seine Kindheit in dauernder Alarmbereitschaft verbracht, immer in Erwartung des nächsten Angriffs, der nächsten Bloßstellung. Heute begegneten ihm sogar Teenager mit Respekt, auch wenn er glaubte, dass sie hinter seinem Rücken über ihn tuschelten und lachten. Vor allem sie waren es, die ihm zu schaffen machten. Er selbst war älter geworden, aber jene, vor denen er auf der Hut war, waren es nicht: Noch immer bereiteten ihm Jugendliche das größte Unbehagen. Nicht ohne Grund hatte er die Pflege alter Menschen zu seinem Beruf gemacht. Sie begegneten ihm mit Dankbarkeit und Respekt.
Er näherte sich dem roten Licht. Es fiel seitlich durch die offene Tür. Seine Knie schienen zu federn, als könnten sie das Gewicht seiner Muskelmasse nicht mehr tragen. Viel schlimmer aber war seine zerbrochene Brille. Er konnte die Tür erkennen, den Lichtschein, doch alle Konturen schienen zu
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