Klammroth: Roman (German Edition)
Stimme sagte ihr, dass es nicht die Klinge in ihrer Hand war, die ihn davon abhielt.
»Ich hatte gehofft, mehr über Theodora zu erfahren. Wir kannten uns nicht gut. Ich wollte sehen, wie sie gelebt hat.«
»Und deswegen brechen Sie hier ein? Sie hätten warten können, bis die Polizei die Wohnung freigibt.«
Sie hatte von Stille jetzt halb umrundet und bewegte sich mit dem Rücken auf die Küchentür zu. Sie konnte den Ausgang spüren wie einen Abgrund, der sie mit seinem Sog erfasste. Nur ein paar Meter, dann würde sie im Flur sein. An der Wohnungstür, auf der Treppe, schließlich im Freien.
»Was wollen Sie von mir?«, fragte sie. »Sie haben doch nicht dafür gesorgt, dass ich hier auftauche, nur weil Sie meine Stiefmutter mochten.«
»Ich erkenne etwas in Ihnen wieder.«
Sie stieß ein hartes Lachen aus. »Von Theodora?«
»Nein«, sagte er leise. »Von mir.«
Sie versuchte sich ihre Verwirrung nicht ansehen zu lassen, als sie den ersten Schritt rückwärts in Richtung der Tür machte.
»Als Ihre Freunde starben«, sagte er, »war das nicht das erste Mal, dass der Tunnel Menschenleben gefordert hat.«
Sie wollte nicht mit ihm über den Unfall sprechen und ganz bestimmt nicht über die Toten. Freunde? Nein, sie waren keine Freunde gewesen, mit Ausnahme von Christina. Sie ertrug den Gedanken von Tag zu Tag weniger. Zugleich hielt etwas sie davon ab, sich herumzuwerfen und davonzulaufen. Dabei musste sie viel schneller sein als er, selbst mit den Rückenschmerzen. Verdammt, er war neunundneunzig Jahre alt . Ein Wunder, dass er noch stehen konnte.
»Sternberg hat mir davon erzählt«, sagte sie. »Von den Kindern aus Ihrem Haus und der Explosion im Tunnel.«
Von Stille nickte bedächtig. »Er ist besessen von dieser Geschichte. Er hat sich Kopien alter Dokumente kommenlassen, Unterlagen des geplanten Prozesses, zu dem es dann nie gekommen ist. Natürlich haben ein paar der Eltern damals versucht, gegen mich vorzugehen, aber sie konnten nichts ausrichten, ohne ihre eigenen Verflechtungen mit dem Regime offenzulegen. Sie alle haben schließlich darauf verzichtet. Lieber ließen sie den Tod ihrer Kinder ungesühnt, als sich selbst ans Messer zu liefern. Und sie waren alle schuldig, jeder Einzelne von ihnen. Das waren nicht irgendwelche Kinder, sondern – «
»Söhne und Töchter hochrangiger Nazis«, unterbrach sie ihn. »Sternberg hat das erwähnt.« Es ging ihr gegen den Strich, wie er zwischen den Zeilen die Kinder mit den Eltern über einen Kamm scherte.
»Eigentlich wollte ich darüber gar nicht mit Ihnen reden«, sagte von Stille. »Sie haben es eilig. Uns bleibt also nicht viel Zeit, um über die wichtigen Dinge zu sprechen.«
Sie hatte die Küchentür fast erreicht.
»Dieser Tunnel frisst Menschen, seit man ihn in den Fels gehauen hat. Und sagen Sie nicht, Sie hätten es nicht geahnt. Sie waren dort. Ich konnte ihn an Ihnen riechen, selbst inmitten des abgebrannten Hauses. Er sitzt in Ihren Poren und noch viel tiefer. Er ist genauso zu einem Teil von ihnen geworden wie von mir.«
Ihr Rückenschmerz loderte auf wie ein Feuer. Von Stille folgte ihr mit langsamen Schritten wie in Zeitlupe. Sie hob das Messer ein wenig und hoffte, dass er das Signal erkannte.
Sein Mantel raschelte, als er stehen blieb. Jetzt, da er sich genau zwischen ihr und einem der beiden Fenster befand, fiel von hinten eine Andeutung von Helligkeit durch den transparenten Kunststoff und umrahmte seine Kontur. Unter dem Plastik trug er keine Kleidung.
»Der Tunnel will uns nicht fort lassen«, sagte er. »Er hat uns den Schmerz geschenkt, und er verfolgt uns mit Leid, wohin wir auch gehen. Oder hatten Sie je das Gefühl, sich von ihm lösen zu können?«
»Das ist nicht der Tunnel«, widersprach sie und zeigte mit der Klinge in seine Richtung. »Es ist unsere Vergangenheit, die wir nicht loswerden. Und daran ist nichts Übersinnliches.«
Als sie sich rückwärts hinaus auf den Flur bewegte, war von Stille nur noch zwei Meter entfernt.
Ihre Stimme klang eine Spur zu hoch. »Bleiben Sie mir vom Leib!«
»Ich will Ihnen nichts tun.«
War er wirklich nackt unter dem Mantel? Heute Nachmittag im Park war er bekleidet gewesen.
»Theodora hat alles über Schmerz gewusst und was er einem antun kann«, sagte er. »Wozu er einen Menschen formen kann. Aber sie hat einen grundlegenden Fehler begangen, von dem sie nicht abzubringen war. Sie sind da ganz anders.«
Die Wohnungstür war nur ein paar Schritte entfernt. Er hatte
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