Klammroth: Roman (German Edition)
keine Wahl.
Lautlos huschte er heran.
Das Messer zuckte vor, aber seine Hand packte ihr Gelenk und drehte es mit erstaunlicher Kraft herum. Der Griff rutschte aus ihren feuchten Fingern und prallte auf den Boden.
»Anais.«
Sein Gesicht war nur einen Fingerbreit entfernt.
Seine Lippen, ganz leicht geöffnet. Dann fest und vernarbt auf ihren.
Sie wehrte sich nicht, weil das Gefühl so überwältigend war. Und diesmal spürte sie, was er tat: Er saugte den Schmerz aus ihrem Körper wie Gift aus einer Wunde.
Innerhalb von Sekunden straffte sich ihr Rücken, und selbst der andere Schmerz – in ihrem Herzen, ihrer Seele –, selbst diese Pein verging.
»Jetzt gehen Sie«, raunte er, als er sie losließ.
Sie warf sich herum, riss die Tür auf und stürmte die Treppe hinunter. Sie dachte an gar nichts, bis sie endlich den Wagen erreichte.
Sie war schon auf halber Strecke nach Klammroth, als ihr Erik wieder einfiel.
32
Als Erik erwachte, lag er nackt auf dem Boden des weißen Kachelraums. Er konnte sich nicht bewegen, war gelähmt vom Hals an abwärts.
Sein erster Gedanke war nicht, wo er sich befand und was mit ihm geschehen war. Vielmehr fragte er sich, ob er während der Betäubung geredet hatte. Hatte er Geheimnisse ausgeplaudert? Jemandem einen Grund gegeben, über ihn zu lachen?
Erst allmählich erfasste er die Situation in all ihrer Konsequenz.
Der alte Mann betrat den Raum. Er hatte ein Messer mitgebracht. Hinter ihm schlossen sich die schalldichten Schiebetüren. Die Klinge in seiner rechten Hand war lang und gezackt.
In seiner Linken trug er einen kleinen Koffer, nicht größer als ein Schuhkarton. Als er ihn am Boden abstellte und öffnete, entfalteten sich mehrere Ebenen und Fächer. Es gelang Erik, den Kopf zu heben und hineinzusehen. Polierte Klingen, die meisten filigran wie Spielzeug. Chirurgenbesteck und andere Instrumente aus Stahl.
»Allein der Schliff entscheidet über die Qualität«, sagte von Stille. »Nicht die Größe.«
»Bitte«, kam es heiser über Eriks Lippen.
Er wusste nicht, wie lange er schon hier lag. Seine Erinnerung endete mit einem Ziehen in seiner Schulter, einem lächerlichen Stich wie von einem Insekt. Er spürte es auch jetzt noch. Wahrscheinlich hatte von Stilles Kanüle einen Nerv getroffen.
Erik hatte ihn nicht zu hart anfassen, nur beiseite schieben wollen. Ein verwirrter Alter, der nackt durch die Klinik geisterte, war nicht das, was er gesucht hatte. Während der letzten Jahre hatte er genügend alte Menschen gebadet, um von Nacktheit nicht irritiert zu werden. Es gab keine Stelle an einem greisen Körper, die er noch nicht gesehen hatte.
Er versuchte sich zu bewegen, aber seine Glieder blieben auf den weißen Fliesen liegen, als wären sie aus Stein. Vergeblich kämpfte er mit den Tränen. Dann brüllte er Flüche und Bitten und Drohungen. Schließlich flehte er um Gnade.
Der Alte stand in seinem durchsichtigen Regenmantel über ihm und betrachtete ihn von Kopf bis Fuß. Erik konnte die Haut an den Innenseiten seiner Schenkel erkennen; die Falten waren dort so verästelt, als wäre ihm ein Baum auf die Haut tätowiert worden.
Von Stille bückte sich, legte das gezackte Messer beiseite und wählte ein anderes aus, eine fingerlange Sichel aus Stahl. Mit solchen Klingen hatte Eriks Vater früher Kaninchen gehäutet.
Nun schrie er noch lauter. Schlug den Kopf in Panik nach rechts und links, bis sein Haar über warmes Blut auf den Fliesen rutschte. Er hatte sich den Hinterkopf aufgeschlagen, aber das spürte er kaum.
Von Stille murmelte etwas, womöglich weil er sich wunderte, dass die Lähmung nicht vollständig war. Seine freie Hand griff in Eriks Haar und zog den Schädel ein Stück nach oben. Mit routinierten Schnitten durchtrennte er die Sehnen in Eriks Nacken, anschließend seine Kiefermuskulatur. Als er den Kopf wieder sinken ließ, lag Erik ruhiger, bebte nur noch leicht. Sein Mund stand offen, während er sich an seinen Schreien verschluckte und vor Schmerzen kaum Luft bekam.
Der alte Mann betrachtete sein Opfer mit angespannter Aufmerksamkeit. Blickte ihm in die Augen, die sich gerade mit Blut füllten, und musterte seine aufgebissenen Lippen. Bevor Eriks Sicht in Rot ertrank, sah er noch, wie von Stille sich seinem Oberkörper zuwandte.
Der Alte schlug die Kapuze hoch und machte sich an die Arbeit.
33
Die Stimme am Telefon klang nicht glücklich über die Störung: »Ja?«
»Herr Herzog?«
Ein kurzes Zögern. »Anais Schwarz?« Er
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