Klammroth: Roman (German Edition)
sie hinter sich zugemacht, aber hoffentlich nicht abgeschlossen. Falls doch, hatte sie immer noch die Schlüsselkarte.
Die ohne Strom nicht funktionierte.
»Waren Sie das, der die Sicherungen ausgeschaltet hat?« Die Frage war überflüssig. Sie kannte die Antwort, bevor sie die Andeutung eines Lächelns in seiner Stimme wahrnahm.
»Ich habe nur den Strom hier in der Wohnung abgeschaltet. Draußen wird das niemand bemerken.«
Sie hatte ein Messer. Und er war dreimal so alt wie sie.Sie war ihm eindeutig überlegen. Warum zum Teufel dachte sie dann darüber nach, ob jemand ihre Schreie hören würde?
»Ich möchte nur mit Ihnen reden.« Von Stille machte einen weiteren Schritt in ihre Richtung. »Sie brauchen keine Angst vor mir zu haben. Dann müssten sie auch sich selbst fürchten, mindestens so sehr wie mich.«
Wovon auch immer er da sprach, es ergab keinen Sinn. »Ich gehe jetzt«, sagte sie so ruhig sie konnte.
»Hören Sie mir zu, Anais.«
Sie näherte sich rückwärts der Wohnungstür. Das Messer lag in ihrer rechten Hand, also musste sie mit links nach der Klinke tasten. Das ging nur, wenn sie sich zur Seite drehte.
»Ihre Stiefmutter hat den Schmerz stets als etwas angesehen, das es zu bekämpfen gilt. Selbst nachdem sie verstanden hatte, was aus mir geworden war, wollte sie nicht erkennen, welche Lektionen das Leben mich gelehrt hat. Vielleicht kann man es nur begreifen, wenn man es am eigenen Leib erfahren hat. So wie Sie, Anais.«
Ihre Hand fand die Klinke. Das Metall lag kühl unter ihren Fingern, als sie es nach unten drückte.
Die Tür ließ sich nicht öffnen. Er hatte sie abgeschlossen, bevor er in die Küche gekommen war. Ein wütender Schrei schwoll in ihr an, doch sie kämpfte ihn nieder, weil sie keine Schwäche zeigen wollte. Ihre beste Waffe, vielleicht stärker als das Messer, war ihre Selbstbeherrschung. Er spielte schon jetzt mit ihren Gefühlen, und einen weiteren Hebel würde sie ihm nicht in die Hand geben.
»Schmerz vermag, uns zu reinigen von all unserem Ballast.« Nun war er ebenfalls im Flur und hob den linken Arm. Aus dem Kunststoffärmel schob sich seine Faust, die langenFinger entfalteten sich wie Insektenbeine. Etwas schimmerte schwach im Dunkeln. Ein Schlüssel.
»Sie haben Ihren Ballast noch nicht vollständig abgeworfen«, sagte er, ohne Anstalten zu machen, ihr den Schlüssel zu geben. Vielmehr ließ er die Hand wieder sinken. »Der Schmerz hilft Ihnen dabei. Er hat mir geholfen, und er wird Ihnen helfen. Insgeheim wissen Sie das längst. All diese Dinge, die Sie getan haben, auf der Bühne und anderswo … die Messer und die Scheren, die Flammen und sogar diese Knochen in Holland … Sie suchen den Schmerz so sehr, wie er sie sucht.«
Leeres Gerede, um sie durcheinanderzubringen. Abgeschmackte Psychospielchen, die ihm eine abartige Freude zu bereiten schienen.
»Schmerz kann so vieles sein«, flüsterte er in die Dunkelheit. »Er kann Sie tragen, wenn Sie schwach sind. Er ist ihr verlässlicher Begleiter bei allem, was Sie tun.«
»Hören Sie auf!« Ihre Stimme überschlug sich fast. »Und geben Sie mir den Schlüssel!«
»Geben Sie mir das Messer.«
Sie hatte es noch immer auf ihn gerichtet, aber das Gewicht fühlte sich nicht sehr tröstlich an.
»Was wollen Sie, verdammt?«, schrie sie ihn an.
»Nicht das, was Sie glauben.«
»Warum sind Sie nackt?«
»Nicht aus dem Grund, den Sie vermuten.« Es irritierte sie, dass sie in der Finsternis seine Augen nur erahnen konnte.
Sie presste sich mit dem Rücken gegen die Wohnungstür. Zugleich schob sie ihre linke Hand nach vorn. »Den Schlüssel.«
Er ließ seine Faust über ihrer Handfläche schweben.
»Sie und ich, wir sind uns ähnlicher, als Sie wahrhaben wollen.«
»Geben Sie mir den Scheißschlüssel!«
Er ließ ihn in ihre Hand fallen. »Ich halte Sie nicht auf, das habe ich Ihnen vorhin schon gesagt. Ich wollte nur die Gelegenheit nutzen, um mit Ihnen zu sprechen. Und das hier wird nicht das letzte Mal sein.«
»Gehen Sie zurück!« Sie wies mit dem Messer in seine Richtung, auch wenn das aussah, als stochere sie hilflos im Leeren. Vielleicht hätte sie ihn verwunden sollen, solange sie die Möglichkeit dazu hatte, damit er ihr nicht folgte.
Aber er trat bereits einen Schritt nach hinten. »Bitte«, sagte er und nickte auffordernd zur Tür.
Mit zitternder Hand suchte sie hinter sich das Schloss. Der Schlüssel kratzte über Lack und stieß auf Metall. Sie musste sich umdrehen, ihr blieb
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