Klammroth: Roman (German Edition)
sprach sie mit vollem Namen an, so, als läse er ihn von einer Karteikarte ab.
»Tut mir leid, dass ich so spät anrufe.« Es war kurz vor neun, vielleicht war er eben erst nach Hause gekommen.
»Was gibt’s denn?«
Sie steuerte den Wagen mit der linken Hand. Draußen schnitten die Scheinwerfer durch Regen und Dunkelheit. »Ich fahre noch mal zum Stillen Haus.«
»Aber nicht jetzt, hoffentlich.«
Anais nickte, noch immer ganz außer sich, und erst nach einem Moment fiel ihr ein, dass er es nicht sehen konnte. »Ich bin schon auf dem Weg.«
»Was wollen Sie da?«
Sie hätte sich etwas zurechtlegen müssen, eine Erklärung, die überzeugend klang. Stattdessen sagte sie: »Ich glaube, wir haben was übersehen.«
»Wir können morgen früh zusammen hinfahren … Wenn es hell ist.« Den zweiten Satz fügte er erst nach einer kurzen Pause hinzu, als wäre ihm zu spät eingefallen, dass es nötig sein könnte, ihr selbst die offensichtlichsten Dinge zu erklären.
Ihre Stimme bebte, und er musste längst ahnen, dass etwas nicht in Ordnung war. Ganz und gar nicht in Ordnung. »Ich muss das jetzt gleich wissen. Morgen früh verschwinde ich aus Klammroth.«
Halb erwartete sie, dass er einen dieser Sprüche aus dem Fernsehen bringen würde – »Sie dürfen die Stadt nicht verlassen!« –, aber er sagte nur: »Erklären Sie mir das.«
»Können wir uns dort treffen?«
»Nun bleiben Sie mal ruhig und –«
»Dann kommen Sie eben, um mich davon abzuhalten«, fuhr sie ihm über den Mund. »Oder Sie lassen’s bleiben.«
»Aber –«
Sie beendete das Gespräch und stellte das Handy auf stumm. Wie erwartet rief er nach wenigen Sekunden zurück, aber sie ging nicht dran.
Was hätte sie ihm auch sagen sollen? Dass sie in die Wohnung ihrer Stiefmutter eingebrochen war, trotz des Polizeisiegels, und dass sie dort dem nackten Freiherrn von Stille begegnet war? Dass er offenbar die Fähigkeit besaß, anderen Menschen die Schmerzen zu nehmen wie Jesus Christus persönlich? Dass sie ihn dennoch für ein durch und durch böses Geschöpf hielt und den Beweis dafür im Stillen Haus vermutete?
Es hat Sie angezogen, nicht wahr?
In Wahrheit war das keine Frage gewesen. Von Stille hatte es gewusst. Dies und womöglich noch andere Dinge über sie, von denen sie nichts ahnte.
Sie suchen den Schmerz so sehr, wie er sie sucht.
An einer Kreuzung bog sie nach links ab. Schon seit einer Weile war ihr kein anderes Auto mehr begegnet. Nur Finsternis und Wald – und immer dieser Regen, gegen den ihre Scheibenwischer nicht ankamen.
Erik würde auf sich selbst aufpassen müssen. Am besten hielt sie ihn aus allem Weiteren heraus, vor allem Herzog gegenüber.
Schon bald erreichte sie die einsame Landstraße, diedurch die Wälder zum See führte. Viertel nach neun. Sie dachte daran, Lily anzurufen, ließ es dann aber bleiben. Wenn Anais ihr sagte, dass sie später in die Pension käme, würde sie sich womöglich noch länger draußen in Klammroth herumtreiben. Besser, sie meldete sich erst bei ihr, wenn Lily schon im Zimmer auf sie wartete.
Herzog versuchte erneut, sie zu erreichen. Sie ignorierte das leuchtende Display und konzentrierte sich auf die Straße.
Der Regen schien sie zu jagen, schlug wie mit Fausthieben aufs Wagendach. Als links von ihr der See in Sicht kam, peitschten Windböen den Niederschlag so fest auf sie nieder, dass sie während der letzten Meter fast von der Fahrbahn abkam.
Vor allem ein Gedanke ließ ihr keine Ruhe. Konnte von Stille vor ihr hier sein und sie erwarten? Er hatte sie gewiss nicht ohne Grund auf die Anziehungskraft des Hauses angesprochen. Er hatte gewollt, dass sie hierher zurückkehrte.
Möglicherweise sorgte er auch nur dafür, dass sie etwas fand.
Etwas, das sie ganz von selbst zu ihm zurücktreiben würde.
34
Eine halbe Stunde lang wartete sie vergeblich im Wagen auf dem Vorplatz. Fast zehn Uhr.
Herzog kam nicht.
Sie saß im Dunkeln, um nicht schon von Weitem gesehen zu werden. Das war albern, und sie wusste es. Jemand, der sich für einen einsamen Wagen vor dem Stillen Haus interessierte, würde nah genug herankommen, um einen Blick hineinzuwerfen.
Der Regen strömte über das Glas, machte aber nicht mehr solchen Lärm wie während der Fahrt. Um zehn nahm sie das Handy vom Beifahrersitz und schickte Lily eine SMS: Bin gegen elf da, spätestens halb zwölf. Bist du schon im Zimmer?
Die Erwiderung kam nur Augenblicke später: In Ordnung. Bis dann.
Das war keine Antwort
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