Klammroth: Roman (German Edition)
einem Kopfschütteln antwortete.
Vergeblich versuchte sie, den scheußlichen Geschmack herunterzuwürgen. Besser wurde die Übelkeit davon nicht, aber die körperliche Schwäche schwand allmählich. Sie ertappte sich dabei, dass sie im Gehen mit den Fingerspitzen an der Mauer entlangstrich, von Fuge zu Fuge, und die Berührung genoss. Wie ein Musiker, der ein neues Instrument streichelt, um die makellose Verarbeitung zu spüren, die Perfektion der Flächen und Rundungen.
Herzog erreichte das Ende des Korridors. Der Lichtstrahl seiner Lampe schnitt eine weiße Bahn in die Staubschwaden und tastete über das grobe Holz der Tür.
Sie war nur angelehnt.
Anais sah ihn an. »Müssten Sie jetzt nicht … ich weiß nicht, Ihre Waffe ziehen?«
»Bleiben Sie hinter mir.« Sein Tonfall hatte sich verändert, der letzte Rest von Leichtigkeit war daraus verschwunden.
Mit der Lampe stieß er gegen die Tür. Knirschendschwang sie nach hinten. Aus den Schimmelkokons an der Decke rieselten graue Flocken.
Anais hielt den Atem an.
Herzogs Licht bohrte sich in die Finsternis. Der Staub der einstürzenden Mauer war auch hierher vorgedrungen und verhinderte, dass sich die Helligkeit gleichmäßig ausbreitete. Die Lampe brannte eine Glutbahn aus wabernden Schwaden ins Dunkel.
Das Echo des Leids, das hier zugefügt worden war, hallte Anais entgegen wie ein vielstimmiger Schrei. Sie taumelte kurz, aber Herzog bemerkte es nicht, und sie hatte sich gleich wieder unter Kontrolle.
Er trat durch die Tür. »Warten Sie hier!«
Mit ruhigen Bewegungen schwenkte er den Strahl durch den Raum. Anais folgte ihm noch bis zur Schwelle, blieb dann aber stehen.
Der Fächer aus Licht streifte grobe Gewölbedecken und nackte Wände aus Bruchstein. Ein halbes Dutzend gemauerte Säulen schuf wandernde Schatten auf dem Gestein.
»Bleiben Sie stehen!«, sagte Herzog.
Einen Moment lang glaubte Anais, er hätte jemanden entdeckt. Dann wurde ihr klar, dass er sie gemeint hatte. Tatsächlich hatte sie zwei Schritte in den Raum hinein gemacht, ohne es zu bemerken. Der Magnetismus dieses Ortes hatte nicht nachgelassen, nur weil sie sich seiner immer bewusster wurde. Ganz im Gegenteil: Sie musste gegen den Zwang ankämpfen, an den Wänden entlangzustreifen und mehr von diesem neuen Gefühl in sich aufzunehmen, das aus den Fugen und Mauerspalten sickerte.
»Ich meine das ernst«, sagte Herzog. »Sie warten jetzt draußen vor der Tür.«
Wortlos trat sie zurück.
Der Lichtstrahl schwenkte einmal im Kreis wie der Schein eines Leuchtturms in der Nacht. Er streifte auch Anais, die für einen Augenblick geblendet wurde. Verharrte er kurz auf ihrem Gesicht, oder bildete sie sich das nur ein? Versuchte Herzog, in ihrer Miene zu lesen? Dann wanderte die Helligkeit weiter, abermals an der Wand entlang. Zugleich wurde Anais sich der Schwärze in ihrem Rücken bewusst, des langen dunklen Korridors, und sie fror bei dem Gedanken daran.
»Sehen Sie was?«, fragte sie.
Das Licht kehrte zurück zu ihr. »Können Sie es noch spüren? Das, wovon Sie eben gesprochen haben.«
»Sie glauben, dass ich verrückt bin.«
»Nein. Aber hier unten ist nichts. Überhaupt nichts.« Er nahm die Lampe herunter und ging noch tiefer in den Keller hinein. Die Schatten der Säulen schienen vor ihm auseinanderzudriften und ihn hinterrücks einzukreisen.
Er erreichte die Rückwand. »Keine weiteren Ausgänge, gar nichts.«
Sie wusste, dass es falsch war, ihren Gedanken auszusprechen, aber sie tat es trotzdem; Herzog würde ja doch keine Ruhe geben. »Ich glaube, hier unten sind Menschen getötet worden.«
Er blieb sehr ruhig. »Und was bringt Sie darauf?«
»Herrgott, ich weiß selbst, wie sich das anhört.«
Er machte sich auf den Weg zurück zu ihr, ein tanzender Lichtpunkt in der Dunkelheit. »Hatten Sie schon früher solche Wahrnehmungen?«
»Ich behaupte nicht, dass ich Hellseherin bin oder irgend so ein Unsinn.«
In seinem Schweigen lag ein stummer Vorwurf.
»Ich hab wirklich gedacht, dass wir hier etwas finden«, sagte sie.
»Oh, wir haben etwas gefunden. Einen zugemauerten Keller, der zwar leer ist, aber sicher aus einem guten Grund zugemauert wurde. Und ich wüsste tatsächlich gern, welcher das sein könnte.«
»Ich hab’s Ihnen gerade gesagt.«
»Und diese Menschen, die hier umgebracht wurden – das war wer genau?«
»Sie trauen mir ja doch nicht mehr.«
»Sie glauben, von Stille hat sich hier unten einen privaten Folterkeller eingerichtet? Dass er eine
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