Klammroth: Roman (German Edition)
Stillen Haus in den Regen traten und hinüber zu den beiden Autos gingen.
»Nicht nötig«, sagte sie mit einem unterdrückten Beben in der Stimme.
»Doch, ich glaube schon.«
Allein in ihrem Wagen, mit Blick auf Herzogs blutrote Rücklichter, begann sie zu weinen.
36
Lily antwortete nicht, als Anais ihre Nummer wählte. Sie hatte auch keine neue SMS geschickt.
Viel zu hektisch parkte sie in einer Lücke vor der Pension ein, eckte dabei den Wagen hinter ihr an und sprang hinaus in den Regen.
Herzog ließ den Motor laufen und schien warten zu wollen, bis sie im Haus war. Als sie am Eingang den Schlüssel aus ihren zitternden Fingern verlor und verzweifelt am Boden danach tastete, hielt er vor einer Einfahrt und war bei ihr, ehe sie die Haustür aufschließen konnte.
»Was ist los?«
»Lily geht nicht ans Telefon.«
»Vielleicht schläft sie schon.«
»Nein«, sagte sie fahrig, »das Handy würde sie wecken.«
Er betrat mit ihr die Pension. In dem winzigen Eingangsbereich brannte nur eine Lampe, die Rezeption war um diese Zeit längst nicht mehr besetzt.
Anais stürmte vor Herzog die Treppe hinauf. Sie spürte seinen Blick in ihrem Rücken, den Argwohn, vielleicht auch die Sorge um ihre Verfassung.
Der Bewegungsmelder reagierte nicht, als sie den Flur hinunterlief. Die Finsternis war ihr aus dem Stillen Haus gefolgt und ließ sie nicht mehr los.
Diesmal fand sie das Schlüsselloch auf Anhieb. Die Tür schwang auf.
Beide Betten waren unberührt.
»O Gott, Lily …«
Mit wenigen Schritten war sie an der Badezimmertür.
»Lily?«
Hinter ihr schaltete Herzog die Zimmerbeleuchtung ein, der Schein fiel bis ins Bad. Niemand war da. Anais riss den Duschvorhang beiseite, als könnte Lily allen Ernstes auf die Idee gekommen sein, im Dunkeln zu duschen.
»Wann haben Sie sie zuletzt gesehen?«, fragte Herzog.
»Heute Morgen. Hier im Zimmer.« Sie fuhr herum. Da lag noch die Nachricht, die sie Lily hinterlassen hatte, augenscheinlich unberührt.
»Haben Sie sich gestritten?«
»Nein, verdammt! Wir haben« – Tränen schossen ihr in die Augen – »wir hatten eine Kissenschlacht.«
»Hatten Sie tagsüber Kontakt zu ihr?«
»Ja, sicher. Wir haben gesimst, ein paar Mal. Und telefoniert, heute Abend erst. Sie hat mir versprochen, um zehn …« Sie brach ab.
»Was?«
Sie hörte auf, ungezielt in dem kleinen Zimmer umherzulaufen, und rieb sich mit den Händen durchs Gesicht. »Sie wollte um zehn hier sein, aber gesprochen haben wir erst später. Ich glaube, da war sie noch unterwegs.«
Er seufzte leise. »Sehen Sie, und das wird sie auch jetzt noch sein.«
Sie zog ihr Handy hervor und las die Uhrzeit ab. »Es ist zehn nach zwölf!«
»Teenager vergessen das manchmal.« Herzog lehnte die Tür an. »Es gab keine Konflikte zwischen Ihnen? Auch nicht am Telefon?«
»Überhaupt keine.« Sie öffnete das Fenster und sah hinab in den Hinterhof. Nichts bewegte sich, nur eine Katze miaute im Dunkeln. Der Abfallcontainer war geschlossen, die schwarzen Müllbeutel darin nicht mehr zu sehen.
Sie stützte sich mit dem Rücken zu Herzog auf die Fensterbank und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. Sie kehrten wieder und wieder zum selben Ort zurück.
»Sie war mit ihnen am Tunnel«, flüsterte sie.
»Bitte?«
Sie wirbelte zu ihm herum. »Sie hat ein paar Jugendliche getroffen, Kinder in ihrem Alter. Sie haben Lily mit zum Tunnel genommen, hat sie mir erzählt.«
Das ließ ihn aufhorchen, obwohl sie das Gefühl hatte, dass er es sich nicht anmerken lassen wollte. Aber da war jetzt ein Schatten zwischen seinen dunklen Brauen. »Hat Sie von dort aus mit Ihnen telefoniert?«
»Nein, da war sie schon wieder in Klammroth. Irgendwo was essen, meinte sie.«
»Okay, das ist gut. Sie werden sicher nicht noch mal den ganzen Weg zurückgegangen sein. Nicht im Dunkeln und bei diesem Wetter.«
»Ich hab keine Ahnung, wer diese anderen waren. Irgendwelche Jungs, vielleicht … Was weiß ich.«
Herzogs sah sich im Zimmer um. »Wo ist ihr Gepäck?«
»Hier drüben.« Sie deutete auf ihren offenen Ziehkoffer. Er sah aus, als wäre er explodiert, so groß war das Chaos darin. Das war sie selbst gewesen, auf der Suche nach ihren letzten sauberen Sachen.
»Ich meine Lilys Gepäck«, sagte er.
Sie machte einen Schritt zur Seite und blickte in den Spalt zwischen Bett und Wand. Ihr wurde schlagartig so schwindelig, dass sie sich nur mit Mühe auf den Beinen halten konnte. Es fühlte sich an, als würde etwas aus ihrem
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