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Klammroth: Roman (German Edition)

Klammroth: Roman (German Edition)

Titel: Klammroth: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isa Grimm
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schlug einige Reste aus dem Rechteck, dann war der Zugang frei. Im Lichtschein erkannte Anais eine Deckenschräge, die abwärts führte.
    »Geben Sie mir die Lampe«, sagte er und nahm sie entgegen.
    Außer den Trümmern auf den Stufen war auf der anderen Seite nichts zu sehen. Eine dichte Staubwolke hing zwischen den Wänden des schmalen Schachts.
    »Sie bleiben hier oben«, sagte er.
    »Ganz bestimmt nicht.«
    Er atmete tief durch und setzte einen Fuß über die Steinreste auf der Schwelle.
    »Was hat er zu Ihnen gesagt?«, fragte Anais leise, als sie ihm in die Tiefe folgte.
    »Von Stille? Nichts als wirres Zeug.«
    »Aber was genau?«
    Herzog hustete vom vielen Staub in der Luft. »Nur Gefasel«, sagte er dann, »von leeren schwarzen Müllsäcken.«

35
    Sie erwähnte ihren Vater mit keinem Wort. Aber sie war überzeugt, dass von Stille ihr erneut eine Nachricht zukommen ließ. Er wusste Bescheid über sie und ihren Vater. Und vielleicht über etwas anderes. Sie musste in Ruhe darüber nachdenken, und dazu war jetzt keine Zeit.
    Die Treppe machte einen Knick und endete nach einem weiteren Dutzend Stufen auf ebenem Boden. Ein Gang führte geradeaus in stickige Finsternis.
    Der See war nicht weit von hier, wahrscheinlich war das gesamte Gemäuer auf schlammigem Untergrund erbaut. Die Feuchtigkeit hatte Schimmelpilze an den Wänden erblühen lassen, in den Winkeln zwischen Decke und Wänden hingen pelzige, graugrüne Ballen. Manche hatten kleine Öffnungen wie Schwalbennester. Anais fragte sich, ob etwas darin lebte.
    Herzog ging voraus und leuchtete den Gang hinunter.
    »Da am Ende ist eine Tür.« Seine Stimme klang dumpf, als spräche er von hinter einer Wand zu ihr. Für einen Moment verunsicherte sie das.
    Dann begriff sie, dass es an ihr lag. Was sie hörte, was sie sah und was sie roch wurde überlagert von dem, was sie fühlte . Der Sog war hier unten viel stärker als im Erdgeschoss, aber er zog sie jetzt nicht mehr in eine bestimmte Richtung. Sie war am Ziel angekommen. Was immer es war, das diese Wirkung auf sie hatte: Sie befand sich bereits mittendrin.
    Diese Mauern hatten sich mit mehr als nur Nässe vollgesogen. Anais kam es vor wie ein Überdruck, der ihre Brustzusammenpresste, ihren Schädel, jedes einzelne ihrer Organe. Sie spürte es im Bauch und im Unterleib, als schlängelte sich etwas in ihr Inneres. Ihre Knie drohten bei jedem Schritt einzuknicken, und ihr Haar war wie elektrisiert.
    Es war die Geschichte dieses Ortes. Das, was hier passiert war. Etwas, das Menschen hier unten zugestoßen oder angetan worden war. Fremder Schmerz. Das Leid der anderen. Es war in diesen Mauern gespeichert wie ein Geruch, den nur sie wahrnehmen konnte.
    Und das Verstörendste war: Es fühlte sich gut an.
    Wir sind uns ähnlicher, als Sie wahrhaben wollen , hatte von Stille gesagt.
    »Frau Schwarz?« Herzog drehte sich auf halbem Weg durch den Gang zu ihr um. »Anais? Alles in   –«
    Sie riss den Kopf zur Seite und erbrach sich.
    Viel kam nicht zum Vorschein, sie hatte seit dem Frühstück nichts mehr gegessen. Galle brannte in ihrer Kehle, und von dem Geschmack wurde ihr noch übler. Würgend stützte sie sich mit einer Hand an der Wand ab. Selbst diese Berührung tat etwas mit ihr, das sie nicht verstand. Als saugte ihr Körper neue Kraft aus dem Gestein. Nach einer halben Minute fühlte sie sich besser, zumindest körperlich.
    Herzog wartete ab, bis sie sich aufrichtete und ihm zuwandte. »Geht’s wieder? Sie sind totenbleich.«
    »Das ist der Staub.«
    »Gehen Sie lieber zurück nach oben.«
    »Auf keinen Fall.«
    Er musterte sie noch eindringlicher. »Sie wissen mehr, als Sie mir erzählt haben.«
    »Hätte ich Sie hergebracht, wenn ich etwas zu verbergen hätte?«
    »Ich behaupte nicht, dass Sie schon mal hier unten waren.« Er deutete mit einem Nicken zum Ende des Gangs. »Aber Sie wissen, was hinter dieser Tür ist. Oder ahnen es zumindest.«
    Was hätte sie darauf erwidern sollen? Dass sie glaubte, dass von Stille ihr den Schmerz nicht uneigennützig genommen hatte? Dass sie annahm, dass er das schon unzählige Male zuvor mit anderen getan hatte? Dass er in diesem Keller viele Jahre lang Menschen Schmerzen zugefügt hatte, um davon zu zehren? So viel Schmerz, dass diese Mauern ihn aufgesaugt hatten wie ein Schwamm und Anais ihn selbst heute noch spüren konnte?
    Wir sind uns ähnlicher, als Sie wahrhaben wollen.
    »Gehen wir weiter«, sagte er widerwillig, als sie auf seine Anschuldigungen nur mit

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