Klammroth: Roman (German Edition)
erklang Sebastians Stimme. Die Pflegerin hämmerte heftiger gegen die Tür. Seine Schritte polterten die Treppe herauf, dabei rief er Neles Namen.
»Peiniger!«, schrie seine Schwester erneut, warf denentstellten Kopf hin und her und rieb die vernarbten Armstümpfe am Bettlaken.
Anais wich zurück. Sie hatte diese Reaktion durch nichts herausgefordert. Womöglich genügte ihre Anwesenheit.
»Anais?« Sebastian erschien im Türrahmen. Sein Gesicht verriet panische Angst. »Wer ist da noch bei dir?«
»Keiner«, sagte sie heiser.
»Draußen ist irgendwer. Er ist mir fast ins Haus gefolgt, ich hab gerade noch die Tür zuschlagen können.« Er stieß sie grob beiseite, als er an Neles Bett eilte. »Ich bin da«, sagte er sanft zu seiner Schwester. »Alles wird gut.«
»Machst du das schon die ganzen Jahre lang?«, fragte Anais.
Er blickte sich zu ihr um.
»Sie anlügen, meine ich.« Anais deutete auf das Krankenbett. »Dass alles gut wird? Dass es wieder sein wird wie früher, so wie dieses verdammte Kinderzimmer?«
Er sah aus, als wollte er auf sie losgehen, aber da erklang aus dem Erdgeschoss das Klirren von Schritten auf Glassplittern.
»Wen hast du mitgebracht?«, schrie Sebastian sie wieder an, wartete aber nicht auf eine Antwort, sondern stürmte aus dem Zimmer und rannte den Flur hinab zur Treppe. »Wer ist da?«
Nele begann wieder zu kreischen.
Anais lief aus dem Zimmer, schloss die Tür des Abstellraums auf und warf der Polin den Schlüssel hinein. »Verbarrikadieren Sie sich da drinnen!«
Sebastian war schon nicht mehr auf der Treppe. Unten im Erdgeschoss erklang der Lärm eines heftigen Gerangels.
Dann schrie er gellend auf.
Anais folgte ihm die Stufen hinab.
41
Sebastian kroch auf dem Bauch den Gang hinunter, fort von der Treppe. Über ihm stand eine Gestalt in einem langen Regenmantel. Darunter trug von Stille seinen schwarzen Anzug. Der Mantel triefte vor Nässe, die Kapuze war hochgeschlagen.
In der rechten Hand hielt er eine lange Klinge, die mehr Ähnlichkeit mit einer riesigen Nadel hatte als mit einem Messer. Ein Bajonett, eine Devotionalie aus dem letzten Weltkrieg.
Er kreuzte Anais’ Blick, als sie um die Treppenkehre trat, und beugte sich lächelnd vor. Mit zwei raschen Schnitten durchtrennte er Sebastians Achillessehnen oberhalb der Fersen.
Anais öffnete den Mund, aber es kam kein Schrei über ihre Lippen. Sebastian brüllte umso lauter, übertönte für einen Moment sogar das Heulen seiner Schwester im ersten Stock.
»Hören Sie auf …« Anais brachte nur ein Flüstern zustande.
»Nein«, sagte von Stille. »Ganz sicher nicht.«
Er drehte sich um und konzentrierte seine Aufmerksamkeit wieder auf Sebastian. Sie konnte nicht sehen, was er vor sich am Boden tat, doch im nächsten Moment verstummten Sebastians Schreie mit einem Röcheln.
Sie stand noch einen Herzschlag länger da wie gelähmt, dann stürmte sie die letzten Stufen hinunter und wollte sich hinterrücks auf von Stille stürzen. Der Mann war fast hundert Jahre alt, wie schwierig konnte es sein, ihn –
Die Bewegung, mit der er herumwirbelte, war so schnell,dass Anais sie nicht einmal sah. Plötzlich stand er mit dem Gesicht zu ihr, und die Spitze des Bajonetts wies auf ihre Brust.
Keinen Meter von der Klinge entfernt hielt sie inne. Doch sie sah nicht die Waffe an, sondern von Stilles Züge unter der Kapuze: knöchern und greisenhaft, hart wie eine Ledermaske, aber zugleich von einer Energie belebt, die ihr mehr Angst machte als das Bajonett in seiner Hand.
»Sie wollen mich nicht töten«, sagte sie, während sich das Blut aus Sebastians Wunden zu ihren Füßen ausbreitete. »Das hätten sie schon in Theodoras Wohnung tun können.«
Er senkte die Klinge. »Theodora hat mir geholfen, dafür helfe ich ihrer Stieftochter. Sie müssen akzeptieren, was Sie sind, Anais.«
»Was haben Sie Lily angetan?« Aus dem Augenwinkel registrierte sie, dass Sebastian sich bewegte und leise stöhnte.
»Nichts. Ich bin Ihrer Tochter niemals begegnet.«
»Sie haben mit ihr auf der verdammten Bank gesessen!«, brüllte sie ihn an. »Sie haben sie –«
»Entführt?« Er hatte tiefblaue Augen, das fiel ihr zum ersten Mal auf. »Warum hätte ich das tun sollen? Sie verstehen es noch immer nicht. Ich weiß, was Sie durchmachen, Anais. Ich habe dasselbe erlebt, all die Stufen des Leidens. Das Leugnen, den Selbsthass, die Verwirrung. Ich habe viele Jahre gebraucht, um zu begreifen, was aus mir geworden ist. Schmerz formt
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