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Klammroth: Roman (German Edition)

Klammroth: Roman (German Edition)

Titel: Klammroth: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isa Grimm
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verwachsen. Aus ihrem verwüsteten Mund drang leises Wimmern, während das Schnaufen aus den Resten ihres Nasenhügels kam.
    Anais hatte das Gefühl, selbst nicht mehr atmen zu können, während ihre Beine nachgaben. Sie musste sich festhalten, weil alle Kraft wie Eiswasser durch ihren Körper abwärts rauschte und eine leere Hülle zurückließ. Sie flüsterte Neles Namen und sah durch Tränenschleier im Rotlicht die Fotos an den Wänden. Gerahmte Bilder aus Neles Kindheit, die meisten in den letzten Jahren vor dem Unfall aufgenommen. Ein hübsches, lachendes, albernes Mädchen, dem man nicht ansah, wie sehr es vom Tod des Vaters verstört worden war. Auf den meisten Fotos war Sebastian an ihrer Seite.
    Bei seinem Anblick stieg in Anais der Schatten einer weiteren Erinnerung auf. Ein Gefühl von Trauer, das sie schon vor dem Unglück heimgesucht hatte, ein zähes, traniges Leiden. Sie wollte ihm nicht weiter auf den Grund gehen und versuchte, den Gedanken abzuschütteln, weil das, was sie vor sich sah, schlimm genug war.
    Neles Stimme klang rau und falsch, als käme sie aus einem Lautsprecher, der seit Jahrzehnten nicht mehr in Betrieb gewesen war. »Ich hab geträumt«, krächzte sie. »Von dir geträumt.« Ein verbrannter Mund wie ihrer hätte keine verständlichen Worte artikulieren dürfen. Es schien fast, als verberge sich da etwas anderes in ihr, das für sie sprach. »Du bist zu mir gekommen   …«
    Anais beugte sich näher an dieses Gesicht, das aussah wie verquirlte Milchhaut auf einem Pudding. »Ich bin hier.«
    »Im Tunnel   …«, wisperte Nele.
    Auf dem Flur erklang ein Pochen und zugleich die gedämpfte Stimme der Polin.
    »Was ist im Tunnel?«
    »Kinder   … im Tunnel   …«
    »Sebastian hat gesagt, dass du mich gerufen hast. Dass du gewusst hast, wo er mich finden kann.« Sie wischte sich Tränen aus den Augen, weil sie den Anblick kaum ertrug und er weitere Erinnerungen weckte. Nele, die auf dem Schulweg den Berg hinunterhopste; die albern herumblödelte und so bemüht war, sich die Trauer um ihren Vater nicht anmerken zu lassen; die mit ihrem ansteckenden Lachen sogar den Kummer aus Sebastians Miene vertreiben konnte, wenn der seine Verkleidung als Anführer fallen ließ und seine Verletzlichkeit offenbarte.
    »Ich hab dich geträumt«, kam es leise aus der Mundöffnung, als wäre Träumen für Nele an die Stelle des Sehens getreten.
    Anais krallte die unverletzte Hand um das Gittergestänge des Krankenbetts. »Ich bin auf der Suche nach meiner Tochter. Lily ist so alt wie   … so wie du damals. Sie ist gestern Abend hier in Klammroth verschwunden, und falls du sie irgendwo siehst   … oder träumst   …« Nichts von alldem fühlte sich an, als wäre es Teil der Wirklichkeit, die sie an der Brücke nach Klammroth zurückgelassen hatte. Oder schon früher?
    »Im Tunnel«, sagte Nele noch einmal.
    »Lily ist im Tunnel?«
    Ein Röcheln stieg aus Neles Kehle auf und wurde zu einem spitzen Schrei, so jählings, dass Anais die Hände auf die Ohren presste.
    Aber Nele beruhigte sich innerhalb weniger Augenblicke und sagte: »Komm näher   …«
    Draußen trat die Pflegerin gegen die Tür.
    Anais beugte sich tiefer über Nele. Sie nahm den chemischen Duft von Salben wahr. Neles Körper schien keinen Eigengeruch zu besitzen. Dafür spürte Anais wieder das Locken fremder Schmerzen, so, als kröche eine Hand aus Neles Mund, die sich in ihr Gesicht krallte und sie immer dichter an die Verbrannte heranzog.
    »Noch näher   …«
    Die Pflegerin brüllte etwas.
    Draußen vor dem Haus antwortete Sebastian.
    Und Nele flüsterte so scharf wie ein Peitschenknall: »Peiniger.«
    Anais schrak zurück.
    »Du   …«, hauchte Nele zu ihr empor. »Du hast zugelassen, dass der Schmerz dich verändert.«
    »Das ist nicht wahr.« Aber natürlich war es das. Ihre Auftritte, die Klingen, all die Schmerzen, die sie sich früher heimlich und heute öffentlich zufügte   – das alles war Ausdruck dessen, was der Tunnel aus ihr gemacht hatte. Sie hatte Bücher geschrieben, in denen Menschen litten, aber das war nur Ablenkung und nicht die Bewältigung ihrer   … ja, was? Vergangenheit? Schuld? Welcher Schuld?
    »Peiniger«, wiederholte Nele noch einmal, und dann sagte sie es wieder und wieder: »Peiniger. Peiniger. Peiniger!«
    Das Wort auf Theodoras Lesezeichen. Anais fragte sich, wann sich all diese Bruchstücke endlich zu einem Bild zusammenfügen würden. Und ob sie das wirklich wollte.
    Unten im Haus

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