Klammroth: Roman (German Edition)
Rasierklinge, dazwischen ein paar dunklere, frischere.
Sie setzte die Kanüle auf die Haut.
»Hier?«, fragte sie.
»Dort wird es wehtun.«
»Ja, ich weiß.«
Sie stieß sich die Nadel ins Fleisch und presste mit dem Daumen den Kolben nach unten.
42
Die Welt war ein Strudel aus Dunkelheit. Anais hatte das Gefühl, sich festhalten zu müssen, doch da war nichts von Substanz, wohin sie auch tastete. Blasse Eindrücke ihres Lebens waren mit ihr in diesem Tornado gefangen, alles drehte sich fortwährend um sie selbst. Szenen ihrer Kindheit, ihr Vater, Sebastian und Nele, ein paar der anderen von damals. Und schließlich der Tunnel, der sie alle verschlang.
Die Wirklichkeit krachte wie ein Stromschlag in ihren Schädel. Dann Helligkeit. Ein Wimmern, ganz in ihrer Nähe.
»Du bist wach«, sagte ein Mann.
Leonhard von Stille siezte sie nicht länger, was unfassbar nebensächlich war und ihr dennoch als Erstes auffiel. Ihre Augenlider flatterten, mehr Licht traf auf ihre Netzhaut. Allmählich formten sich Umrisse.
Zugleich begriff sie, dass sie gefesselt war.
Ihr Gesicht hing nach vorn auf ihrer Brust. Ihre Arme und Beine prickelten, alles an ihr war in angespannter Erwartung. Sie saß auf einem Stuhl und erkannte die Kunststoffschnur, die um ihren Oberkörper und die Lehne in ihrem Rücken geschlungen war. Während ihr Verstand noch darum kämpfte, klarer zu denken, hob sie den Kopf. Vereinzelte Lichter blendeten sie, im ersten Augenblick gleißend hell, dann immer trüber.
Sie befand sich im ehemaligen Saal des Hotels. Sebastian musste ihn schon vor Jahren leer geräumt haben, nur ein paar Holzstühle waren zwischen den verhängten Fenstern übereinandergestapelt. Unter der Balkendecke hing ein Kronleuchter mit eingestaubten Glühbirnen.
Von Stille hatte drei Stühle in die Mitte des Raums gezogen. Auf einem saß Anais, ihr gegenüber – keine drei Meter entfernt – standen die beiden anderen. Sebastian und die Pflegerin waren darauf festgebunden, ihre Körper unterhalb der Brust umschnürt, die Arme hinter die Lehnen gezurrt. Beide waren mit Streifen der schweren Samtvorhänge geknebelt und versuchten, mit weit aufgerissenen Augen über ihre Schultern zu blicken.
Der alte Mann ging hinter ihnen auf und ab. Er hatte die Kapuze seines Regenmantels zurückgeschlagen und klopfte sich mit der flachen Seite des Bajonetts gedankenverloren in die Hand wie ein Lehrer mit dem Zeigestock.
Ein wenig abseits lag Nele auf dem Boden. Von Stille hatte sie aus ihrem Bett im Hinterhaus gehoben und hierhergebracht. Sie war in ihre Decke gewickelt, lag auf der Seite und hatte das Gesicht zu Anais gewandt, als könnte sie auch ohne Augen zu ihr herüberblicken. Das Wimmern kam von ihr, doch je länger Anais hinhörte, desto deutlicher klang es in ihren Ohren nach der Melodie eines Kinderliedes. Sebastian hatte es seiner Schwester früher manchmal vorgesummt, es war Teil ihrer gemeinsamen Erinnerung an den verstorbenen Vater.
Anais’ Bewusstsein kehrte jetzt immer schneller zurück. Sie stemmte sich gegen die Fesseln, war aber so hilflos wie die beiden anderen. Von Stille hatte ihr die Jacke ausgezogen, wahrscheinlich weil er sich nicht die Mühe machen wollte, ihre Taschen zu durchsuchen. Sie lag ein Stück weit entfernt, kurz vor der Wand.
Er blieb hinter der Pflegerin stehen. Ihre Bauchwunde konnte nicht tief sein, aber sie hatte stark geblutet. Sie trug noch immer den Bademantel, mit dem sie die Treppe heruntergekommen war. Es irritierte Anais, dass der alteMann sich die Mühe gemacht hatte, den Stoff sorgfältig über ihrem Schoß zu schließen, bevor er sie gefesselt hatte. Der Mantel war dunkelrot getränkt wie die Schürze eines Schlachters.
Wortlos pellte von Stille das Frottee über den Schultern der Frau nach unten, bis ihre Oberarme entblößt waren. Dann zog er ihren Kopf an den Haaren nach hinten und entblößte ihre Kehle.
»Nicht!«, rief Anais mit einer Stimme, die so heiser war, als hätte sie seit Stunden nichts anderes getan als zu schreien. »Lassen Sie sie in Frieden.«
»Ich möchte dir etwas demonstrieren.«
Sebastian stöhnte dumpf in seinen Knebel. Er war wach, aber benommen von Schmerz und Blutverlust. Anais war nicht sicher, ob er erkannte, in welcher Lage er sich befand.
»Es tut mir leid«, sagte von Stille und zog das Bajonett über die Haut der Frau. Er fügte ihr einen langen Schnitt unterhalb des Schlüsselbeins zu, von einer Schulter zur anderen. Sie zuckte und versuchte zu
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