Klammroth: Roman (German Edition)
strampeln. Die Laute, die hinter ihrem Knebel hervordrangen, klangen, als bekäme sie kaum Luft. Anais hoffte für sie, dass sie bald das Bewusstsein verlor.
Von Stille atmete tief durch. Dann führte er einen weiteren Schnitt, parallel zum ersten. Der Kopf der Frau sackte zur Seite, ihre Lider schlossen sich zur Hälfte, und ihre Gegenwehr erschlaffte. Mit einer routinierten Bewegung schob von Stille ihr den Knebel übers Kinn nach unten, zog ihren Kopf, soweit es ging, in den Nacken und presste seinen Mund auf ihren.
Anais fühlte sich schuldig, weil sie den Namen der Frau nicht kannte. Sie würde ihr beim Sterben zusehen und wusste nicht einmal, wie sie hieß.
Im Hintergrund summte Nele in stoßweisen, abgehackten Lauten die Melodie des Liedes. Sebastian schrie von Stille an, aber der rote Samtknebel in seinem Mund verschluckte seine Stimme. Der alte Mann stieß ein wohliges Seufzen aus, während er vorgebeugt hinter der Frau stand und seine Lippen auf ihre drückte. Er saugte den Schmerz wie Nektar aus ihrem Körper. Wäre sie bei Bewusstsein gewesen, hätte sie wohl spüren können, wie das Brennen und Pulsieren der Wunden verblasste.
Anais hörte sich auf ihn einreden, aber weder Flehen noch Bitten zeigten Wirkung. Auch ihre verzweifelten Drohungen ignorierte er.
Als er endlich von der Frau abließ, hob und senkte sich ihre blutige Brust noch immer, und ihre Augenlider zuckten. Aber sie gab keinen Ton von sich, wirkte wie eine Schlafende, die von Albträumen heimgesucht wurde.
»So könnte das Stunden weitergehen«, sagte von Stille, als er sich aufrichtete. Er wirkte gesünder denn je. Äußerlich blieb er derselbe hagere Greis, doch seine blauen Augen leuchteten vor Kraft. »Manchmal verlieren sie das Bewusstsein, aber es ist wichtig, dass sie den Schmerz erst spüren, bevor wir ihn trinken.« Lächelnd zuckte er mit den Schultern. »Ich habe die Regeln nicht gemacht.«
Bevor wir ihn trinken.
Anais wandte den Blick ab, sah jedoch absichtlich nicht in Neles Richtung, aus Angst, er könnte sie sich als Nächste vornehmen.
»Es hat keinen Zweck, dass du es leugnest«, sagte von Stille. »Theodora war anders als du, so viel stärker. Es ist eine Schande, dass dein Vater sie getötet hat. Ich werde ihm bald einen Besuch abstatten.« Seine Augen hellten sich weiter auf. »Er muss Theodora sehr gehasst haben. Und erhat in Kauf genommen, dass man dich für ihre Mörderin hält.«
Durch den Nebel aus Entsetzen und Zorn drang wie ein feiner Lichtstrahl eine Spur von Verwunderung. Hass allein war nicht der Grund, aus dem ihr Vater Theodora ermordet hatte. Wusste von Stille das nicht? Sie brauchte Zeit, um darüber nachzudenken, doch die ließ er ihr nicht.
»Es gibt viele Namen für das, was wir sind, du und ich. Menschen, die so viel Leid ertragen müssen, dass sie süchtig danach werden. Hast du gewusst, dass es Legenden über uns gibt? Alte Sagen und Märchen. Die Brüder Grimm haben uns erwähnt, sogar Goethe im zweiten Faust , und Dante beschreibt einige von uns in seinem Inferno . Quälgeister haben sie uns genannt, aber das Wort hat heute nicht mehr dieselbe Bedeutung wie damals. Außerdem sind wir Menschen aus Fleisch und Blut, wir altern und sterben wie jeder andere. Vielleicht ein wenig später als andere.« Der Zynismus in seinem Tonfall machte Anais ganz krank. »Und auch nur dann, wenn wir unsere Gabe nicht zurückweisen. Du musst dich der Wahrheit öffnen, Anais. Akzeptieren, was der Schmerz aus dir gemacht hat. Bald wirst du sein wie ich, die ersten Schritte hast du schon vollzogen.«
»Wo ist Lily?«, fragte sie.
Ihre Tochter war nicht hier im Haus, davon war sie überzeugt, und vielleicht, nur vielleicht, hatte er sie gar nicht in seine Gewalt gebracht. Womöglich war sie irgendwo in Sicherheit. Anais brauchte nur eine Bestätigung dafür, dann würde sie ohne Zögern ihr Leben riskieren, um sich und die beiden anderen zu befreien.
»Deine Tochter ist nie hier gewesen«, sagte er. »Ist dir das noch immer nicht klar? Sie war immer nur eine Projektion deines Leidens.«
Sie lachte ihn aus, kalt und voller Abscheu. »Lily war bei mir. Erst in Amsterdam, dann hier in Klammroth.«
»Sie war in deinem Kopf, das ist ein Unterschied.«
»Lily hat –«
»Lily«, unterbrach er sie scharf und war mit wenigen Schritten bei ihr, »ist nichts als Einbildung. Vielleicht ist sie anderswo, bei ihrem Vater, was weiß ich. Aber du bist allein in die Klinik gekommen, sie hat nie neben mir auf der Bank
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