Klammroth: Roman (German Edition)
dort oben eine Eingebung.
»Einverstanden«, sagte er und trat zur Seite.
Der Motor lief noch. Anais setzte sich hinters Steuer und zog die Tür zu. Sebastian lief ums Heck herum zur Beifahrerseite.
Sie ließ die Zentralverriegelung einrasten, bevor er die Tür öffnen konnte.
Er fluchte da draußen und beschimpfte sie, während sie Gas gab, doch sie achtete nicht auf ihn. Kurz lief er noch neben ihr her und hämmerte gegen die Scheiben, brüllte ihren Namen, schlug auf den Kofferraum. Aber sie beschleunigte und ließ ihn hinter sich zurück.
Viel zu schnell raste sie die Uferstraße entlang, durch eine Schneise aus spritzendem Wasser. Einen Moment lang sah sie ihn noch im Spiegel – ein roter, tobender Teufel im Schein der Rücklichter –, dann verschlang ihn die Dunkelheit.
40
Sie parkte das Taxi in der Auffahrt des Teusnerhotels, nahm Sebastians Handy aus der Halterung, steckte es in ihre Jacke und sprang hinaus in den Regen. Im ersten Stock des Hinterhauses brannte Licht.
Er hatte die Wahrheit gesagt: Neles Schreie waren verstummt.
Sie lief zur Seitenwand des Anbaus, fand einen Stapel Ziegelsteine und schleuderte kurzerhand einen davon durch ein kleines Fenster. Es befand sich am Ende eines Flurs. Der Lärm musste die Pflegerin alarmieren, aber das spielte jetzt keine Rolle mehr.
Als sie durch den Rahmen kletterte, schnitt sie sich an einer Scherbe den Handballen auf. Die Wunde blutete und tat weh, aber der Schmerz belebte sie nur.
Auf einer Kommode stand ein Telefon in seiner Ladestation. Sie zog es heraus und warf es durch das offene Fenster. Am Ende des Gangs flammte Helligkeit auf. Jemand hatte das Licht über einer schmalen Treppe eingeschaltet. Eine zaghafte Stimme mit polnischem Akzent rief von oben: »Hallo?«
»Alles in Ordnung«, sagte Anais und ging auf die Treppe zu. »Ich bin eine Freundin von Sebastian. Er ist draußen, aber er hat sich verletzt.«
»Herr Teusner?« Eine schmale, blonde Frau in einem hellen Bademantel blickte um die Treppenkehre. Sie mochte Mitte vierzig sein und kniff die Augen ein wenig zusammen, als hätte sie vor Schreck ihre Brille am Bett vergessen.
Anais ging auf sie zu. »Haben Sie Verbandszeug?«
»Wo ist Herr Teusner?«
Draußen vor dem Fenster erklang ein Rascheln. Anais hoffte, es wäre nur der Wind. »Bitte, wir brauchen dringend etwas, um ihn zu verbinden.« Sie hob ihre verletzte Hand in der Hoffnung, dass die Frau das Blut für Sebastians hielt.
»Ich kenne Sie nicht. Warum hat er nicht die Tür aufgeschlossen? Oder geklingelt?«
Anais stand jetzt am Fuß der Treppe. Die Abwehrhaltung der Pflegerin verriet, dass sie kein Wort glaubte. Aber Anais wollte sie nicht überzeugen, nur Zeit gewinnen.
»Bitte, er hat Schmerzen.«
»Warten Sie hier«, sagte die Frau. »Ich sehe oben nach, ob ich etwas finde.«
Eine Pflegerin, die erst nach Verbandszeug suchen musste? Wohl kaum.
»Rufen Sie nicht die Polizei«, sagte Anais und begann, die Treppe hinaufzusteigen.
Die Polin wich einen Schritt zurück. »Bleiben Sie stehen!«
»Ich muss mit Nele –«
Im selben Augenblick, da sie den Namen aussprach, gellte ein furchtbarer Schrei durchs Haus. Die Pflegerin blickte nervös über die Schulter, dann wieder herab zu Anais. »Was wollen Sie?«
»Mein Name ist Anais Schwarz. Ich –«
Das Brüllen wiederholte sich und schien dann nicht mehr enden zu wollen. Anais hatte erst ein einziges Mal Menschen in solch einem Tonfall schreien hören. Die Erinnerung daran kehrte so unvermittelt zurück, dass sie instinktiv nach dem Treppengeländer griff, um nicht den Halt zu verlieren. Die Hand mit der Wunde schloss sich um den Holzlauf, der Schmerz war heftig und berauschend zugleich.
Die Pflegerin musste daran gewöhnt sein, denn sie ließ Anais nicht aus den Augen. »Sie sind Frau Schwarz?«, fragtesie. »Herr Teusner ist losgefahren, um Sie herzuholen. Nele hat nach Ihnen gerufen, immer wieder.«
Anais’ Hand zog eine blutige Spur über das Treppengeländer. Sie konnte nicht loslassen, weil es sich zu gut anfühlte; die Wunde öffnete sich durch den Druck auf das Holz noch weiter und blutete heftiger. Die Erschöpfung fiel von ihr ab. Selbst die Gedanken an ihren Vater verblassten.
»Lassen Sie mich zu ihr gehen«, bat sie.
Die Frau starrte auf das Blut am Geländer. »Warum haben Sie das Fenster zerbrochen?«
»Sie hätten mich nicht hereingelassen.«
»Sie können nicht zu Nele. Nicht ohne Herrn Teusner … Er ist nicht wirklich da draußen,
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