Klammroth: Roman (German Edition)
oder?«
Die Polin war bis zur obersten Stufe zurückgewichen. Hinter ihr lag ein Flur wie der im Erdgeschoss. Auch dort befand sich auf einem kleinen Tisch ein Telefon, darüber hing ein Spiegel. Zwei gegenüberliegende Türen standen offen; in einem der beiden Räume brannte Licht, wahrscheinlich das Schlafzimmer der Pflegerin. In dem anderen war es dunkel. Von dort erklang abermals ein Schrei. Diesmal waren es drei Silben.
»Aaa – naaa – iiis!«
»Gehen Sie aus dem Weg!«
»Aber Sie können doch nicht –«
Anais sprang die letzten Stufen hinauf und schob die Frau beiseite. Zwei Schritte weiter nahm sie das Telefon aus der Station und steckte es in ihre Jackentasche.
»Warten Sie doch!«
»Nele ruft nach mir«, sagte Anais, ohne sich umzublicken.
Hastige Schritte folgten ihr den Gang hinunter. Im nächsten Augenblick wurde sie am Arm gepackt und zurückgerissen. Sie wirbelte herum und versetzte der Frau einen Schlag mit der flachen Hand, der sie gegen die Wand taumeln ließ.
Entsetzt über ihre eigene Tat stand sie einen Moment lang wie versteinert da.
Die Polin presste die Hand auf den Mund, ihre Augen waren weit aufgerissen. Als sie die Finger zitternd herunternahm, schmierte sie sich eine Blutspur übers Kinn.
»Das hab ich nicht gewollt«, stammelte Anais. »Ich wollte Ihnen nicht wehtun.«
Nur dass das eine Lüge war. Sie sah das Blut auf den Lippen der Frau, die Angst in ihren Augen. Vor allem aber war ihr, als könne sie die Platzwunde spüren. In ihr regte sich der übermächtige Wunsch, ihren Mund auf den der Polin zu pressen und mit aller Kraft in die verletzte Lippe zu beißen. Das Blut interessierte sie nicht, nur der Schmerz.
Mit einer enormen Willensanstrengung machte sie einen Schritt zurück und wandte sich dem dunklen Zimmer zu.
Hinter ihr stieß die Frau einen wütenden Schrei aus und stürzte sich auf sie. Plötzlich umklammerte sie Anais’ Oberkörper und schleuderte sie zur Seite, so heftig, dass Anais gegen die Wand prallte, das Telefontischchen umriss und beinahe darüber stolperte.
Auch Nele begann wieder zu kreischen, nicht länger Anais’ Namen, sondern jene hohen, unartikulierten Töne, als stünde ihr Fleisch noch immer in Flammen.
Anais und die Polin rangen im Flur miteinander. Mit einem Mal griff die Frau in Anais’ Haar und riss ihr die Perücke herunter. Verwirrt blickte sie auf das Haarteil in ihrer Hand, dann auf die Brandnarben.
Im nächsten Moment traf Anais’ Faust sie am Jochbein und warf sie zu Boden. Dort blieb sie liegen, so benommen, dass Anais sie an den Händen packen und in ein drittesZimmer ziehen konnte, in dem die Utensilien für Neles Pflege aufbewahrt wurden. Die Frau strampelte schwach mit den Beinen und protestierte in ihrer Heimatsprache. Anais ließ sie im Dunkeln liegen, zog den Schlüssel an der Innenseite ab und verschloss die Tür von außen. Im Flur hob sie die Perücke vom Boden und setzte sie auf.
Als sie das Krankenzimmer betrat, stellte sie fest, dass sie sich getäuscht hatte: Es war nicht völlig dunkel im Raum. In einer Steckdose befand sich eine kleine, rote Lampe, wie man sie nachts in den Zimmern furchtsamer Kinder benutzte. Vage erinnerte sie sich, dass Nele nach dem Tod ihres Vaters Angst im Dunkeln gehabt hatte. Auf einem Sessel in der Ecke waren Stofftiere drapiert, an den Wänden hingen gewellte Poster aus den Neunzigern. Weite Teile der Einrichtung waren seit dem Unfall nicht verändert worden.
Allerdings gab es das Fenster nicht mehr, an das Anais sich von früher erinnerte. Stattdessen war da jetzt eine vergitterte Glastür, die zur Ausfahrt an der höher gelegenen Hangseite des Hauses führte.
Die zweite Neuerung war das monströse Krankenbett, das den linken Teil des Raumes beherrschte. Am Kopfende standen elektronische Überwachungsgeräte, aber keines war eingeschaltet. Aufgewickelte Schläuche hingen an schimmernden Aufhängungen.
Das Geschrei war abgebrochen, als Anais das Zimmer betreten hatte. Jetzt war nur noch hektisches Atmen zu hören.
Nele lag halb aufgedeckt im Bett. Im roten Halblicht sah sie aus wie eine nackte Puppe, der ein grausames Kind besonders übel mitgespielt hatte: die Plastikglieder aus den Gelenken gedreht, die Glasaugen eingedrückt. Unter einem silbrigen Laken aus Spezialfasern zeichneten sich keine Beineab, Neles Körper endete am Unterleib. An den Schultergelenken glänzten faustgroße Stümpfe.
Ihre Augen waren verschwunden, die Haut war über den Höhlen wieder
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